Heute ist der Tag, an dem Wolfgang D. aus seiner Wohnung auszieht. Nicht freiwillig, aber als irgendwann die Möbelpacker vor der Tür stehen, hat er ja keine andere Wahl. Die Miete ist über Monate nicht bezahlt worden. Also packt D. einen Rucksack mit den nötigsten Sachen, nimmt einen Aktenkoffer und einen Schirm – und geht. Die Treppe hinunter, aus dem Mehrfamilienhaus, in dem er gewohnt hat, vorbei an dem großen Wagen, in dem seine Möbel verstaut werden. Und das alles nur, weil er nicht die Bewerbungen geschrieben hat, die die Arbeitsagentur von ihm verlangte.
Irgendwann bekam er kein Geld mehr überwiesen. Dass D. Analphabet ist, wusste die Agentur. Es hat dort nur niemanden so richtig interessiert. Seine Anwältin sagt: „Sowas hab ich noch nicht erlebt.“
Screenshot: SWR
Wolfgang D. lebt jetzt im Obdachlosenheim. Als er seine neue Bleibe gezeigt bekommt, verzieht er keine Miene. Er kann es nicht ändern. Draußen erzählt der Heimleiter dem Redakteur vom Fernsehen, der D. begleiten durfte, dass die wenigsten hier wieder rauskommen. „Das heißt: Hier ist eigentlich ziemliche Endstation?“, fragt der Redakteur. Und der Heimleiter sagt: „Ja. Ja.“ Wolfgang D. steht daneben und sagt nichts. Ein kleiner untersetzter Mann mit Schnauzbart und Schirmmütze, die er über die langen Haare gezogen hat, sprachlos.
Es ist kein Mitleidsfilm, den Thomas Reutter und Sylvia Nagel zum – wenn man das so sagen kann: 5. Geburtstag von Hartz IV gedreht haben, sondern ein Erlebnisbericht ganz unterschiedlicher Menschen, die auf Unterstützung vom Staat angewiesen sind und an der Bürokratie scheitern. An Sachbearbeitern, die nicht zurückrufen oder monatelang behaupten, die Unterlagen seien nicht vollständig eingereicht. An unverständlichen Bescheiden, an Sanktionen, die dazu führen, dass Menschen „den Boden unter den Füßen weggezogen bekommen“, wie es in der Reportage heißt.
Das Problem ist nur: die Sendezeit. „Abgestempelt? Leben mit Hartz IV“ läuft heute Abend um 23.30 Uhr im Ersten. Und gehört da natürlich nicht hin. Denn eigentlich leistet sich die ARD seit einigen Monaten am Montagabend einen Sendeplatz, auf dem ganz hervorragende Reportagen über aktuelle Themen zur besten Sendezeit um 21 Uhr gezeigt werden, so wie neulich die Doku „Der Amoklauf von Winnenden“, für die die Autoren die Hinterbliebenen der Opfer acht Monate nach der Tat besucht haben (schnell noch mal in der Mediathek anschauen.)
Und wenn man ARD-Programmdirektor Volker Herres fragt, ob es ihn nicht ärgert, wenn Medienkritiker einerseits von der ARD fordern, Dokus nicht immer nur im Nachtprogramm zu zeigen, sich dann aber auch beschweren, wenn die ARD mit ihren Montagsquoten nicht gegen „Bauer sucht Frau“ bei RTL ankommt, dann sagt er:
„So ist das Leben eines Fernsehschaffenden. Man kann es nie allen recht machen!“
Es hilft nur nichts: Im Gespräch mit sueddeutsche.de sagte Herres vor zwei Wochen, dass die Zuschauer am Montag nicht reichten, um die bisherige Programmierung fortzusetzen. Und erklärt im Fernsehblog jetzt, was er stattdessen zeigen will: Doku-Reihen wie „Kriegskinder“, „Mein Deutschland“, „Legenden“ oder „Mahlzeit Deutschland“. Die seien zwar weniger aktualitätsbezogen, vielleicht auch weniger gesellschaftskritisch, so Herres, hätten aber durchaus einen hohen Informationsgehalt und seien unterhaltend, „eine Mischung, die am Montagabend offensichtlich ihr Publikum findet“.
Volker Herres: Wir hatten in den letzten Monaten mehrere Dokumentationen zu aktuellen Themen auf diesem Sendeplatz. Aus journalistischer Sicht bin ich sehr zufrieden mit diesen Filmen, denn sie belegen, wie schnell und umfassend Das Erste auf aktuelle Ereignisse reagieren kann, um unserem Publikum wichtige und ausführliche Hintergrundinformationen zu geben. Leider sind diese Dokumentationen nicht so erfolgreich gelaufen wie unsere Doku-Reihen. Wir brauchen aber auch am Montag eine angemessene Akzeptanz, was angesichts des Gegenprogramms bei ZDF und auf RTL keine leichte Aufgabe ist.
Vielleicht ist das naiv, so zu fragen, aber: Ist es nicht die Aufgabe der ARD, eine journalistisch aktuelle Dokustrecke trotzdem beizubehalten und die geringeren Quoten in Kauf zu nehmen?
Herres: Das ist nicht naiv gefragt, sondern beschreibt unsere Programmphilosophie: Auf massenattraktive Programme folgen informationsorientierte Sendungen, die politische und soziale Hintergründe beleuchten. Dieser Genrewechsel zieht sich bei uns durch jeden Tag der Woche. Damit wollen wir möglichst viele Zuschauer – die sich etwa am Dienstag oder Mittwoch für unterhaltsame oder anspruchsvolle Filmen und Serien begeistern – auch für politische Themen gewinnen. Wir nehmen dabei im Audience-Flow bewusst Verluste in Kauf. Nur in der Primetime gibt es auch eine Grenze nach unten, die nicht unterschritten werden sollte.
War es ein Fehler, eine Seifenoper-artige Reihe wie „Geld.Macht.Liebe“ direkt vor den Dokus zu platzieren?
Herres: Hinterher ist man immer klüger. Natürlich haben wir uns erhofft, dass „Geld.Macht.Liebe“ ein größeres Publikum begeistert und damit auch die nachfolgende aktuelle Dokumentation profitiert. Am Dienstagabend gelingt dies nach „In aller Freundschaft“ bei unserem Wirtschaftsmagazin durchaus und am Mittwoch mit dem Fernsehfilm und „hart aber fair“ ebenso.
Ob es einen neuen Platz für aktuelle Dokus zu einer ähnlichen Sendezeit geben wird, sagt Herres nicht. Im Februar zeigt das Erste montags auf jeden Fall (wieder) Karneval statt Reportagen, im ersten Halbjahr ist für den Sendeplatz unter anderem eine Dokumentation geplant, die zum geplanten Afrikaschwerpunkt passt, und ein Porträt zum 80. Geburtstag von Helmut Kohl.
Gewöhnen Sie sich also schon mal daran, für aktuelle Reportagen bald wieder länger wachzubleiben. Ach, und wo wir gerade dabei sind: Auch das ZDF hat heute eine Reportage im Programm, die sehenswert klingt (aber erst rechtzeitig zum Sendetermin fertig wird, wie Autorin Anne Gellinek, Leiterin des ZDF-Studios Moskau, erklärt). Wenn Sie nach „Abgestempelt“im Ersten noch wach sind, schalten Sie doch einfach mal rüber: Für das „Duell ums Gas“ hat das ZDF nämlich ein lauschiges Plätzchen um 0.35 Uhr gefunden, und wegen des „ZDF spezial“ zum Beben in Haiti wird’s wohl noch mal zehn Minuten später.
Nachtrag, 14. Januar: Inzwischen ist „Abgestempelt?“ in der ARD-Mediathek verfügbar, ebenso das „Duell ums Gas“ beim ZDF.