In einer der vorläufig besten Pointen des Jahres hat der Fernsehsender RTL, der sein Geld damit verdient, Missgeschicke, körperliche Makel und Selbstüberschätzungen junger Menschen gnadenlos vor einem Millionenpublikum auszustellen, den deutschen Jugendschützern mangelnde „Sensibilität“ vorgeworfen. Und nicht nur das: RTL bezichtigt die Medienwächter, die Unwahrheit gesagt zu haben. Das ist allerdings eine Lüge.
Aber der Reihe nach.
Am Donnerstag rügte die Kommission für Jugendmedienschutz der Landesmedienanstalten (KJM) die erste Folge der aktuellen Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“, genauer: deren Wiederholung im Nachmittagsprogramm. Bei einem 18-jährigen Kandidaten zeichnete sich auf der Hose etwas ab, bei dem es sich um einen Urin-Fleck zu handeln schien. Jury-Chef Dieter Bohlen zeigte mit dem Finger auf den verunsicherten Jungen und machte sich ausführlich über ihn lustig. RTL manipulierte die Szene so, dass die Peinlichkeit und Bloßstellung noch größer wurde.
Die KJM bemängelte die Ausstrahlung am Nachmittag, weil die Szenen Kinder unter zwölf Jahren in ihrer Entwicklung beeinträchtigen könnten. Eine formale Beanstandung konnte die KJM nicht aussprechen, da RTL die Sendung vor der Ausstrahlung der Freiwilligen Selbstkontrolle Fersehen (FSF) vorgelegt hatte, die das Programm durchgewunken hatte. Der KJM-Vorsitzende Wolf-Dieter Ring erklärte: „Hier werden nicht nur beleidigende Äußerungen und antisoziales Verhalten als normale Umgangsformen präsentiert. Hier werden Verhaltensmodelle vorgeführt, die Häme und Herabwürdigung anderer als völlig legitim darstellen.“
Inhaltlich hat RTL zu dieser Debatte nichts beizutragen. Der Sender wirft der KJM stattdessen vor, mit falschen Karten zu spielen. In einer Pressemitteilung heißt es, die KJM habe „in ihren öffentlichen Ausführungen eine Folge ausführlich kritisiert, die in der beschrieben Version nicht im Nachmittagsprogramm von RTL gezeigt wurde“. Unternehmenssprecher Christian Körner lässt sich mit dem Satz zitieren: „Diese bewusst oder unbewusst irreführende Kommunikation der KJM wird der Sensibilität der Thematik nicht gerecht.“
Mit irreführender Kommunikation kennt RTL sich aus.
Richtig ist: Die Nachmittagswiederholung der umstrittenen Folge wich von dem am Abend ausgestrahlten Original ab. Der Sender hat sie um 15 Sekunden gekürzt: Statt 3:36 ist der Auftritt des „Pipi-Kandidaten“ (RTL) nur noch 3:21 Minuten lang. Richtig ist aber auch: All das, was die KJM in ihrer Pressemitteilung bemängelt, ist auch in der vermeintlich kindertauglichen Variante noch enthalten.
Unser Video demonstriert, was der Sender tatsächlich gekürzt hat:
Das Video zeigt, wohlgemerkt, nur einen kleinen Teil des Auftritts. Die komplette Demütigung kann man auf der RTL-eigenen Videoplattform „Clipfish“ sehen. Auch die Nachmittagsversion enthielt ungekürzt und unverändert u.a.: die Animation, wie ein fliegender Bohlen auf den Zettel uriniert, der zur Teilnahme am „Recall“ berechtigt; Bohlens Satz „lieber Cholera auf dem Pillermann als dein Gesang – das war Scheiße!“, den RTL aus einem ganz anderen Casting dazwischen geschnitten hat; der Abgang des Kandidaten, unter den RTL das Lied „Jetzt kommen wieder wir mit der Nummer, wo man pinkeln gehen kann“ gelegt hat, und die Frage Bohlens: „Das hatten wir auch noch nie, dass sich einer in die Hose gepisst hatte, nä? Soo ein Fleck!“
Zum Vergleich noch einmal die Beschreibung der KJM: „RTL erweckte in der Inszenierung den Eindruck, der Kandidat könne seine Körperfunktionen nicht kontrollieren. Dies wurde ausführlich thematisiert, mehrfach gezeigt und mittels verschiedenen Inszenierungstechniken lächerlich gemacht.“
Es war, kurz gesagt, all das, was die KJM in ihrer Pressemitteilung beschrieben und bemängelt hat, auch in der Kinderfassung zu sehen. Wenn der Sender das bestreitet, sagt er die Unwahrheit. Mit der Realität hat man’s bei RTL gerade nicht so.
Nachtrag, 19:20 Uhr. RTL hat unser Video auf YouTube entfernen lassen, weil es angeblich einen Verstoß gegen das Urheberrecht darstellt. Vermutlich wird der Sender in Kürze auch die Sevenload-Version entfernen lassen, obwohl die Verwendung des Materials in dieser Form durch das Zitatrecht gedeckt ist.