„Ich glaube, dass die Politik – und namentlich die Politiker – inzwischen bei weiten Teilen der Bevölkerung einen solchen Vertrauens- und Zutrauensverlust haben, dass dies zu einem erheblichen Problem werden könnte. Die Kommunikation, die personellen Auswahlmechanismen, die Veranstaltungsformen, die Art ihrer Auftritte wird sich fundamental ändern müssen, um dieses Zutrauen zurückzugewinnen.“
Sagt Peer Steinbrück, steht auf, läuft ein letztes Mal durch die Halle mit den Kameras und den Scheinwerfern, trinkt einen Schluck Wasser. Dann sind die 30 Minuten auch schon vorbei.
„Steinbrücks Blick in den Abgrund“ heißt der Film, den der Journalist Stephan Lamby fürs Erste gemacht hat; einen Film mit „sehr subjektiven Eindrücken eines langjährigen Ministers“. Am Anfang heißt es aus dem Off: „Er war mittendrin im Zentrum der Macht. Und der Krise. Jetzt ist er draußen – und kann frei sprechen.“
Und vielleicht ist es die eigentliche Überraschung, dass Steinbrück diese Chance tatsächlich wahrnimmt. Nicht, um mit irgendwem abzurechnen. Sondern einfach, indem er ohne Ausweichversuche auf Lambys Fragen antwortet: Was das im Herbst 2008 für eine Situation war, als er mit Angela Merkel vor die Kameras trat, um den Deutschen zu versichern, dass ihre Ersparnisse in der Krise von der Bundesregierung abgesichert sind. Ob er Angst hatte. Und wie er nach dem Ende seiner Zeit als Finanzminister über die politische Klasse denkt.
Steinbrück redet darüber, dass die Strategie nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise riskant war, „mehr als ich öffentlich bereit war zuzugeben“. Er redet über die Rentengarantie, die die Regierung 2009 beschloss: „Einer meiner schwersten Fehler. Ich hätte nicht mitmachen dürfen. Das war ein Tabubruch.“ Und er redet über eine „strategische Fehleinschätzung der SPD“. Es sind Sätze, die man sonst nicht so häufig von Politikern zu hören bekommt, in einem Film, wie ihn deutsche Zuschauer sonst selten zu sehen kriegen. Stephan Lamby sagt:
„Die Idee war, eine Zwischenform aus Interview, Reportage und Dokumentation zu machen. Im deutschen Fernsehen sind die Genres alle exakt aufgeteilt. Ich glaube, dass es da eine gewisse Lücke gibt, eine andere Form der Politikvermittlung, wie ich sie mir öfter wünschen würde.“
Lamby hat Steinbrück nicht vor einen schwarzen Hintergrund gesetzt und 30 Minuten abgefragt. Er hat sich mit ihm unterhalten, unterbricht die Gesprächssituation in der Lagerhalle im Film aber immer wieder mit anderen Passagen: einem gemeinsamen Spaziergang durchs Berliner Regierungsviertel, einer Reise im Regionalexpress, einem Treffen im „Einstein“ Unter den Linden, dem Besuch bei Helmut Schmidt in dessen Büro über den Dächern Hamburgs. Und mit Bildern, die an den Ausbruch der Krise erinnern und an ihre Folgen, die sich Steinbrück gemeinsam mit dem Interviewer am Laptop ansieht bevor sie darüber sprechen.
„Man muss dem Publikum auch visuell etwas bieten. Es muss eine inhaltliche Spannung geben, die eine formelle Entsprechung hat. Das war ja auch ein Stück weit experimentell: Ich wusste nicht, wie Steinbrück reagieren würde. Er hat aber gesagt: Sie sind der Regisseur, Sie machen das schon.“
Zwischendurch ist Steinbrück zu sehen, wie er mit dem Auto zum Interview gefahren wird, wie er sich hinter der Kamera vorbereitet, die Brille putzt – ein Blick hinter die eigenen Kulissen, die das Fernsehen sonst für seine Zuschauer aufbaut. Am Anfang und am Ende läuft im Hintergrund Richard Hawleys „There’s A Storm A Comin'“.
War Lamby nicht selbst überrascht, dass Steinbrück so offen geredet hat?
„Wir haben uns über viele Stunden unterhalten und auch an mehreren Tagen getroffen. Da hat man natürlich die Möglichkeit als Dokumentarist, das zu kondensieren. In einer Talkshow ist man auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, was in dieser Zeit passiert. Das ist der Vorteil der Doku: Da gibt es keinen Leerlauf. So kommen auch Sätze zustande, die man sonst vielleicht selten von Politikern hört.“
Und Filme, wie sie sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen ruhig öfter leisten sollte.
„Steinbrücks Blick in den Abgrund“ läuft am Mittwochabend im Ersten, direkt nach den „Tagesthemen“ um 22.45 Uhr.
Nachtrag, 5. August: Der Film steht jetzt in der ARD-Mediathek.
Screenshot/Foto: Das Erste/Ecomedia TV
Steinbrück hatte schon zu...
Steinbrück hatte schon zu Amtszeiten offener geredet als andere Politiker. Das hat ihn letztlich dahin geführt, wo er sich jetzt wiederfindet – ins Abseits. Man mag sowas nicht. Übrigens auch der Wähler nicht. Steinbrück ist ein Politiker, der an jeder Ecke fehlt. Er ist als Antipode der Friedrich Merz der SPD.
Danke für den interessanten...
Danke für den interessanten Programmhinweis. Ich bin sehr gespannt.
Randnotiz: Im dritten Absatz häufen sich die Rechtschreibfehler („Steinrücks“, „mit ’sehr subjektiven Eindrücke“).
@Michael: Korrigiert. Danke....
@Michael: Korrigiert. Danke.
<p>Lächerlich, daß...
Lächerlich, daß ausgerechnet Steinbrück von einer Änderung der „personellen Auswahlkriterien“ spricht. Der Typ hat lange Zeit seiner politischen Karriere, wie Steinmeier, „niemals eine Wahlurne von Innen gesehen“ (Friedrich Küppersbusch). Das eine Mal, als er zur Wahl stand, hat er das SPD-Stammland NRW an die CDU verloren. Dieser Herr ist ein zutiefst undemokratischer Hintertürpolitiker, der sich nie als Volksvertreter vrestanden hat. Wenn er jetzt von neuen Auswahlkriterien spricht, frage ich mich, ob er dazugelernt hat, oder denkt, daß mehr Politiker das so handhaben sollten, wie er selbst. Ich befürchte, das letztere. Unerträglich, der Mann. Ich werde mir den Quatsch sicher nicht angucken.
Steinbrück ist sicher ein...
Steinbrück ist sicher ein Politiker, der eine offeneres Wort spricht und sprechen kann als die meisten seiner Kollegen. Dennoch hat er während seiner Amtszeit genauso (und noch mehr) versagt als jene . Letztendlich hat er die unsägliche Rentengarantie mitgetragen, auch wenn er sie – hier unterstelle ich ihm durchaus Ehrlichkeit – im Nachhinein als Fehler ansieht. Weiterhin – und das ist mindestens genauso schlimm – hat er es nicht geschafft, selbst in Zeiten der Hochkonjunktur, trotz sprudelnder Steuereinnahmen, einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen, sondern hat weitere Neuverschuldung erzeugt. Steinbrück mag ehrlich sein, kompetent ist er aber nicht unbedingt.
Sein „Glück“ ist, die bevorstehende politisch gewollte Ausplünderung Deutschlands durch die EU sein Nachfolger zu verantworten hat. Nur hätte Steinbrück anders gehandelt als Schäuble – ich glaube nicht.
<p>Hinterher sind sie...
Hinterher sind sie komischerweise alle immer klüger…
Hmm, äußerst interessant,...
Hmm, äußerst interessant, die Kritik im Spiegel zu diesem Film ist ja mal so richtig komplett gegenteiliger Meinung… das bin ich mal gespannt, was das heute Abend gibt.. 🙂
<p>Richtige Analyse des...
Richtige Analyse des Ist-Zustandes durch Steinbrück.
Leider hat er nicht die mindeste Idee, was zu tun wäre.
Und immerhin war er einer der Guten. Weil: ehrlich und zupackend.
Ich denke, er weiß, dass sich nichts ändern wird.
@ Trantor
Und nach Ansicht der...
@ Trantor
Und nach Ansicht der Sendung finde ich Reinhard Mohrs Kritik im Spiegel zutreffender als diese von Peer Schader.
(For what it’s worth)
Zwiespältiger Eindruck....
Zwiespältiger Eindruck. Einerseits eine kurzweilige und teils auch erhellende halbe Stunde mit einem mir durchaus sympathischen Politiker (selten genug, diese Kombination) , andererseits auch viele Gemeinplätze (der Besuch bei Schmidt war weitgehend verzichtbar), ein paar unnötige visuelle Spielereien und eine deutlich zu dramatische Off-Stimme.
Man sollte nicht glauben, dass ein Politiker wirklich offen reden kann, nur weil er kein Minister mehr ist. Steinbrück bewegt sich immer noch als Bundestagsabgeordneter und Redner in der Öffentlichkeit, da ist der Grad der echten Offenheit wohl sehr überschaubar. Und weil er sich vorstellen kann, unter gewissen Umständen Finanz-Sonderberater von Kanzlerin Merkel zu sein, wird er sich mit seinen Äußerungen (auch zur Vergangenheit) nicht allzu sehr aus dem Fenster lehnen.
Wer sich allerdings von dieser Sendung keine Wunderdinge verspricht, kann sie sich unbeschadet und ohne Reue in der ARD-Mediathek zu Gemüte führen.