Das Fernsehblog

Das Fernsehblog

Von wegen sterbendes Medium: 225 Minuten sieht jeder von uns im Schnitt täglich fern. In diesem Blog stehen die Gründe dafür. Und die dagegen.

Ein Sender läuft Amok: RTL verkauft Terror-Übung als Ernstfall

| 41 Lesermeinungen

Von einem Amoklauf in einer Kölner Berufsschule berichtete das RTL-Regionalmagazin heute Abend, "Verhandlung unmöglich. Der Mann will töten". Erst nach vielen dramatischen Szenen verrät der Sender, dass es sich nur um eine Übung handelte. Auch bei den Informationsprogrammen von RTL scheint die Grenze zwischen Fiktion und Realität aufzuweichen.

Bild zu: Ein Sender läuft Amok: RTL verkauft Terror-Übung als Ernstfall

Das Regionalmagazin von RTL in Nordrhein-Westfalen hat heute mit einer dramatischen Meldung aufgemacht. Knapp zwei Minuten lang ließen die Journalisten des Boulevardsenders ihre Zuschauer glauben, es habe sich ein Amoklauf in Köln ereignet.

Bild zu: Ein Sender läuft Amok: RTL verkauft Terror-Übung als Ernstfall

Der Themenüberblick der Sendung beginnt mit Bildern und atemlos gerufenen Sätzen, die das Schlimmste befürchten lassen:

„Amoklauf in Köln! Ein Mann verschanzt sich in einer Berufsschule! Spezialkräfte stürmen das Gebäude!“

Bild zu: Ein Sender läuft Amok: RTL verkauft Terror-Übung als ErnstfallNachh der Begrüßung sagt die Moderatorin Sonja Schwetje:  

„Dramatische Szenen heute Nachmittag in Köln. Ein Amokläufer hatte sich verschanzt, schwerbewaffnete SEK-Beamte vor Ort, gegen 14 Uhr dann plötzlich Zugriff. Mein Kollege Arne Marks war dabei.“

Der Reporter berichtet:

„Eine Berufsschule in Köln. Hinter den Mauern ein Amokläufer. Verhandlung unmöglich. Der Mann will töten. Er hat eine Schusswaffe, soviel weiß die Polizei. Die SEK-Beamten haben keine andere Wahl. Sie müssen in das Gebäude. Der Hinweis kam von einem anonymen Anrufer.“ 

Nun spricht ein Polizeimitarbeiter:

„Heute hat jeder ein Handy, so dass wir nach ganz kurzer Zeit mehrere Anrufe zum Geschehen haben, die nicht immer sehr präzise sind, aufgrund der Aufregung, was es natürlich den Kräften nicht leichter macht.“ 

Jetzt wieder der Reporter:

„Schüsse, Schreie dringen nach draußen. Das Spezialeinsatzkommando arbeitet sich von Raum zu Raum. Überall im Gebäude kann der Amokläufer lauern. Der ganze Einsatz wird vom gegenüberliegenden Gebäude von mehreren Fotografen und Kamerateams verfolgt. Das Ganze ist zum Glück… nur eine Übung.“ 

Knapp zwei Minuten sind, wie gesagt, bis hierher vergangen. Erst jetzt verrät das (zumindest theoretisch) journalistische Regionalmagazin seinen Zuschauern, dass es sie angelogen hat: Es gab keinen Amoklauf heute in Köln, es hat sich kein Amokläufer in einer Berufsschule verschanzt, es drohten auch keine Toten. Es gab nur eine Fortbildungsveranstaltung, bei der jemand die schlechte Idee hatte, auch ein Kamerateam von RTL zuschauen zu lassen.

Wer weiß, vielleicht war es ja auch für den Sender eine Übung: Ein Test, wie man – nach der legendären Winnenden-Berichterstattung im vergangenen Jahr – möglichst geil über einen solchen potentiellen Amoklauf berichten kann. Gerade bei der Berichterstattung über Amokläufe ist zwar besondere Zurückhaltung geboten, um nicht mit Sätzen wie „Der Mann will töten!“ Nachahmer zu animieren. Aber erstens war es ja kein Amoklauf, sondern RTL hat nur getan, als wäre es ein Amoklauf gewesen. Und zweitens ist ja nicht davon auszugehen, dass sich der Sender sich in Zukunft plötzlich an solche Richtlinien halten würde.

Nun kann man natürlich fragen, wie viele Sicherungen heute da bei Reporter, Moderatorin und Verantwortlichen durchgebrannt sein müssen, um in einer sich als Informationsprogramm gebenden Sendung zwei Minuten lang einen Amoklauf vorzutäuschen. Doch die Antwort ist womöglich leicht. In mindestens einem Teil seiner Doku-Soaps und fast dem ganzen Nachmittagsprogramm hat RTL die Grenze zwischen Realität und Fiktion längst aufgegeben. Inszenierungen und schlecht ausgedachte und gespielte Geschichten, die sogenannte „Scripted Reality“, werden vom Sender wie Dokumentationen behandelt. Auf Nachfrage heißt es, dem Publikum der Nachmittagssendungen wie „Familien im Brennpunkt“ oder „Verdachtsfälle“ sei es egal, ob eine Geschichte „echt“ sei oder nicht. Die Zuschauerzahlen sind außerordentlich hoch. Der Hinweis am Ende der Sendung, dass es sich um Fakes handelt, ist winzig.

Warum sollte das nur bei Doku-Soaps funktionieren und nicht auch in den Magazinen und anderen scheinbar non-fiktionalen Formaten? Vielleicht hat RTL West das heute für zwei Minuten mal getestet. 

Die Amok-Sendung bei RTLnow. (Nachtrag, 16:00 Uhr: RTL hat das Video der Sendung gelöscht.)

Nachtrag, 17.20 Uhr: RTL West erklärt, die „entstandenen Irritationen“ zu bedauern. In einem etwas wirren Text doziert der Programmchef Jörg Zajonc über die Wichtigkeit von „Verständlichkeit“ und „inhaltlichem Aufbau“ von Beiträgen und über die Notwendigkeit von „Relevanz“ und „Akzeptanz“, gibt dann aber zu: Man sei fälschlicherweise davon ausgegangen, dass die neongelben Warnwesten, die die Beamten tragen, den Übungscharakter des Einsatzes deutlich machten. Die Kritik an dem Beitrag sei berechtigt; künftig werde man die Berichterstattung über ähnliche Themen „anders gestalten“.

Mit Dank an Klaus S.! Screenshots: RTL

Schlagwörter:

41 Lesermeinungen

  1. K. Arl sagt:

    Krass! Danke für die...
    Krass! Danke für die Dokumentation…

  2. StephanJ sagt:

    RTL - so realitätsnah wie...
    RTL – so realitätsnah wie möglich.

  3. BlueKO sagt:

    Als der Sender mal "Mein RTL"...
    Als der Sender mal „Mein RTL“ war hatte er noch ein plus im Namen.
    Seither kommt er nur noch sekundenweise beim Zappen auf meinen Bildschirm.
    Dieser Artikel beweist mir mal wieder warum das so ist. Danke für die tapfere Recherche.

  4. Was? Wo soll da solch ein...
    Was? Wo soll da solch ein Hinweis stehen? Ich lese nach so einer Doku-Soap etwas wie „XY wurde wegen… zu fünf Jahren Haft verurteilt“ und ähnliche Hinweise. Auf Konsequenzen in der Realität, als „Moral aus der Geschichte“ für die jugendlichen Zuschauer, dachte ich bisher.
    Besonders makaber, dass gerade gestern ein tatsächlicher Amoklauf an einer Gewerbeschule in Ludwigshafen oder Ludwigsburg (?) vor Gericht verhandelt wurde. Und im Fernsehen darüber berichtet. Dabei wurde der ca 21j.Täter, der seinen Lehrer tötete, lange und mehrmals gezeigt. Er hielt sich nichts vor das Gesicht und lächelte leicht unter seiner Baseball-Kappe hervor. Erklärungen gab es auch und sie erzählten, er zeige keine Reue, sondern fände es nach wie vor richtig. So wirkte er auch auf mich, ziemlich cool. Auch auf andere?(!)
    Es lief in „Brisant“ und in „Hallo Deutschland“ und die werden vom Ersten und vom ZDF betrieben. Die Moderatoren können da machen was sie halt so denken. Keiner macht sie auf solche Richtlinien aufmerksam. Sie wissen es nicht von selbst. Wer weiß, was sie für eine Ausbildung haben. Und wenn man mal hinschreibt, bekommt man eine Standard-Antwort. Auch hier: wo sind die Zahlen der Beschwerdebriefe und -Anrufe? Wer gibt einem darüber Auskunft, wo kann man sie einfordern? Die engagierten Pädagogen und Wissenschaftler in der Amok-Forschung und Gewaltprävention bekommen zu wenig finanzielle Mittel, aber für solche Clips und zwei Minuten Einschaltquote ist Geld da??
    Wie kann man nur Eltern und Freunde so erschrecken, wissen sie nicht, wie lang die Sekunden werden, wenn man jemanden, den man kennt, als betroffen befürchtet? Was sitzen da für Menschen?

  5. DonnyK77 sagt:

    Ich habe jetzt eine Beschwerde...
    Ich habe jetzt eine Beschwerde bei der Landesanstalt für Medien eingereicht. Das bringt wahrscheinlich nichts, aber ich habe die Schnauze voll. Ich bin echt fassungslos.

  6. Jürgen sagt:

    wieso verroht eigentlich...
    wieso verroht eigentlich unsere gesellschaft?
    Weils geld bringt?

  7. Erinnert ein klein wenig an...
    Erinnert ein klein wenig an die Fringe-Promo auf Pro7 vor ner Weile.

  8. gotenprinz sagt:

    RTL= Ratschen Tratschen Labern...
    RTL= Ratschen Tratschen Labern

  9. Sanníe sagt:

    Vorschläge fürs nächste...
    Vorschläge fürs nächste Mal:
    Terrorangriff auf die Hauptstadt – Das Regierungsviertel brennt
    AKW Krümmel in die Luft geflogen – Hamburg für immer verstrahlt
    (Verdammt, ist das wirklich kein Grund, denen die Sendelizenz zu nehmen und jemandem zu geben, der damit verantwortungsvoler umzugehen weiß?)

  10. Hanno Zulla sagt:

    Nichts neues im...
    Nichts neues im Lokaljournalismus. Die (sonst wirklich gar nicht üble) Lokalzeitung meiner früheren Schaumburger Heimat schreibt regelmäßig in dieser Form über Übungen.
    https://www.landes-zeitung.de/portal/startseite_Flugzeug-stuerzt-an-der-Schaumburg-in-den-Wald-_arid,258458.html
    https://www.landes-zeitung.de/portal/startseite_Lastwagenbrand-in-Versandhalle-_arid,227701.html
    (und noch viel mehr Beispiele im Archiv)
    Zunächst packende Artikel- („Flugzeug stürzt an der Schaumburg in den Wald“) und Bildüberschriften („Passagiere des abgestürzten Flugzeugs liegen im Waldgebiet verstreut, in dem bereits ein Feuer ausgebrochen ist und gelöscht werden muss. Sie werden mit Decken und Tragen geborgen.“). Dann eine Einleitung mit dem Szenario, aber im Text wird meist erst im zweiten oder dritten Absatz erwähnt, dass es sich nur um eine Übung handelte. Am Ende grillen die Feuerwehrleute dann gemeinsam. 🙂
    Ähnliches wird sich wohl in vielen Lokalzeitungen finden. Die Redakteure, die zu diesen eher langweiligen Übungen geschickt werden, wollen wohl auch nur, dass ihre Artikel dann später gelesen werden…

Kommentare sind deaktiviert.