Das Fernsehblog

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Die verspätete Fernsehkritik: Thilo Sarrazin bei Günther Jauch

| 29 Lesermeinungen

Am vergangenen Mittwoch war der umstrittene Buchautor bei "Stern TV" und behauptete, seine Thesen und Fakten seien "unbestritten" und bis heute auch nicht "hinterfragt". Moslems dürften in Deutschland leben, wenn sie sich integrieren, sich an die Gesetze halten und ihr Brot selbst verdienen. Günther Jauch, der vom nächsten Jahr an Nachfolger von "Anne Will" werden soll, gab ein schlechtes Bild ab.

Bild zu: Die verspätete Fernsehkritik: Thilo Sarrazin bei Günther Jauch

Vergangene Woche war Thilo Sarrazin bei Günther Jauch, und keiner hat’s gemerkt. 

Das stimmt natürlich nicht; die Sendung hatte fast vier Millionen Zuschauer, fast genau so viele wie „Anne Will“ am Sonntag zuvor. Aber während keine Ausgabe von „Anne Will“ unrezensiert bleibt, hat Sarrazins Auftritt bei „Stern TV“ fast keine mediale Resonanz gefunden. Sein Magazin werde „publizistisch kaum mehr wahrgenommen“, stellte Jauch vor einem halben Jahr fest. In diesem Fall war das vielleicht besser so.

Der Besuch von Sarrazin war ein guter Anlass, sich einmal anzusehen, wie Jauch mit einem solchen Gast und einem solchen Thema umgeht, bevor er demnächst den traditionsreichen Polit-Talk am Sonntagabend im Ersten übernimmt. Er machte keinen guten Eindruck.

Seine Redaktion auch nicht. Bevor Sarrazin im „Stern TV“-Studio sprach, sprach er, wie in dieser Sendung üblich, in einem „Stern TV“-Filmbericht und erklärte, wie Deutschland zu retten sei. Zum Beispiel: „Wer seine Kinder nicht vernünftig beschult, dem wird die Sozialhilfe teilweise gestrichen. Wenn Kinder die Schule schwänzen, gibt es Geldstafe für die Eltern.“ Sarrazin erwähnte nicht, dass Schulschwänzen bereits jetzt eine Ordnungswidrigkeit darstellt und Eltern von Schulverweigerern ein Bußgeld droht. „Stern TV“ erwähnte es auch nicht.  

Jauch rollte Sarrazin einen kuscheligen roten Teppich aus. Seine erste Frage lautete: „War ihnen klar, dass Sie über eine Million Bücher verkaufen würden und dass sie im Grunde so einen Integrationsdebattentsunami über Deutschland auslösen würden?“ Kritische Fragen verpackte er in dickste Watte: „Viele sagen: ‚Der hat ja nicht ganz unrecht, aber er bringt uns nicht weiter. Durch sein Buch werden die Dinge nicht besser, der Graben zwischen Deutschen und Menschen mit Migrationshintergrund, der wird dadurch vertieft anstatt dass er zugeschüttet wird.‘ Sie würden die Probleme nicht lösen, sondern nur vertiefen. Ist da nicht was dran?“ Oder: „Wenn Sie mit Ihrem Buch gar nicht provozieren wollten, wenn man das alles, was sie schreiben, ja wohl auch noch wird sagen dürfen in diesem Land, warum haben Sie denn dann den Dienst quittiert?“ Ob der Halbsatz mit dem, was man ja wohl nach sagen dürfen wird in diesem Land, ein Zitat der entsprechenden „Bild“-Schlagzeile oder Jauchs Meinung, blieb offen.

Jauch sagte: „Es gibt Umfragen, die besagen, dass Sie mit ihren Thesen durchaus eine neue politische Partei gründen könnten, die auf Anhieb erfolgreich wäre. Die einen sagen 18 Prozent, andere sagen 20 Prozent, andere sind in ihren Schätzungen noch optimistischer.“ Die Zahlen, die Jauch nennt, sind tatsächlich durch die Medien gegangen, aber ihre Interpretation ist falsch. 18 ist – laut einer Emnid-Umfrage – nicht der Prozentsatz, den eine Sarrazin-Partei bei Wahlen erringen würde, sondern die Zahl der Menschen, die es sich „vorstellen“ können, eine solche Partei zu wählen. Ein gewaltiger Unterschied. 

Jauch zitierte den Satz von Bundespräsident Christian Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland, und fragte Sarrazin: „Sehen Sie das auch so?“ Sarrazin antwortete unter anderem: 

„Was er meint und hätte sagen sollen: Wer islamischen Glaubens ist und bei uns die Gesetze einhält und sich einfügt, kann und soll bei uns leben, wenn er denn sein Brot selber verdient. Das wäre eine vernünftige Aussage.“

Was für eine bemerkenswerte Formulierung, die deutlich macht, wie Sarrazin Moslems diskriminiert. Sie müssen aufgrund ihrer Religion offenkundig Anforderungen erfüllen, die Christen, Atheisten und Agnostiker nicht erfüllen müssen. Was soll, seiner Meinung nach, mit muslimischen Deutschen passieren, die nicht ihr Brot selber verdienen? Oder meint Sarrazin hier nur muslimische Einwanderer? Das wäre aber eine erstaunliche Ungenauigkeit, wo er unmittelbar zuvor dem Bundespräsidenten, stotternd und sich verhaspelnd, vorgeworfen hat, unsauber zu formulieren.

Und was machte Jauch? Er hakte nicht nach, er sprach Sarrazin nicht darauf an, er las die nächste Frage von seiner Karte ab. 

Sarrazin sagte noch mehr erstaunliche Sätze. Zum Beispiel:

„Die Wahrheit bringt immer weiter. Und die Wahrheit kann auch nie schädlich sein. Ich habe immer darauf gewartet, dass irgendwer mal kommt und sagt: ‚Das und das in dem Buch ist falsch. Das und das ist logisch falsch, hier sind falsche Zahlen.‘ Das hat es nicht gegeben. Von den Argumentationslinien meines Buches ist bis heute eigentlich keine widerlegt oder auch nur hinterfragt worden.“

Später sagte er, die „Tatsachen und Zusammenhänge“ aus seinem Buch seien „bis heute unbestritten“. Man kann sich womöglich darüber streiten, ob Aussagen und Argumentationen aus Sarrazins Buch widerlegt wurden. Aber zu behaupten, niemand hätte ihm faktisch widersprochen oder seine Argumente hinterfragt oder bestritten, ist offensichtlich unwahr. Jauch ließ es ihm durchgehen.

Die Redaktion hatte für einen weiteren Filmbericht verschiedenen Familien ausgesucht, die gelungene und misslungene Integration repräsentieren sollten. Auf der einen Seite: Arabische Großfamilien mit Menschen, die auch nach vielen Jahren in Deutschland kein deutsch sprechen. Auf der anderen Seite: Einwanderer aus Kasachstan, deren Kinder schon kein russisch mehr sprechen, dafür aber jeder ein Musik-Instrument gelernt haben. Der Kontrast zwischen dem abgeschotteten Ghetto im Hochhausviertel und der heilen Welt im Einfamilienhaus in der Kleinstadt war fast schon lächerlich maximal – und hätte zu der fruchtbaren Frage führen können, in welchem Maß der soziale Status (im Gegensatz zur Fixierung auf Herkunft und Religion) eine Rolle bei der „Integration“ spielt.

Fakten, Statistiken, Studien darüber, wie typisch die gezeigten Fälle sind, erwähnte „Stern TV“ nicht. Jauch sagte bloß, die Nicht-Integrierten, die zu sehen waren, seien ja wohl keine Einzelfälle. Es hätte dann noch eine Diskussion geben sollen, aber die scheiterte schon an der Auswahl der Gäste. Houaida Taraji, die Familien- und Frauenbeauftragte im Zentralrat der Muslime, hatte zu der Diskussion nichts beizutragen. Und der Stadtteilmanager von Bremen-Tenever, Joachim Barloschky, hätte zwar von seinen persönlichen Erfahrungen im täglichen Umgang mit vielen Nationen in einem Problemviertel berichten können – dazu hätte man ihn aber dazu befragen müssen.

Nach insgesamt über einer halben Stunde zu dem Thema bedankte sich Jauch bei den Diskussionsteilnehmern herzlich dafür, dass es „richtig Hin- und Hergegangen“ sei, denn das sei auch „Sinn der Sache“ gewesen. 

Dem „Zeit“-Magazin hat Günther Jauch im vergangenen Jahr erzählt, welches Gefühl er manchmal hat, wenn er eine politische Talkshow sieht:

„Ich sitze oft vor dem Fernseher und denke: So, jetzt hat sie oder er den Politiker! Der Ball liegt vor dem leeren Tor, man muss ihn nur noch reinschieben. Aber was passiert? Die Kollegen stoppen den Ball und laufen mit ihm in die andere Richtung.“

Am vergangenen Mittwoch hatte er selbst nicht einmal Ballkontakt. 

Teile der Sendung auf YouTube

Screenshot: RTL


29 Lesermeinungen

  1. Ibn Rusd sagt:

    Der Artikelschreiber hatte...
    Der Artikelschreiber hatte nicht nur keinen Ballkontakt (wie Jauch vorgehalten), er hat den Ball nicht einmal gesehen.

  2. @Jeeves: Nein, er formuliert...
    @Jeeves: Nein, er formuliert das als Teil seiner Forderungen, was zu tun sei.

  3. Ibn Rusd sagt:

    Der Artikelschreiber hatte...
    Der Artikelschreiber hatte nicht nur keinen Ballkontakt (wie Jauch vorgehalten), er hat den Ball nicht einmal gesehen.

  4. Merke: Grundlage (auch die...
    Merke: Grundlage (auch die einer verspäteten Fernsehkritik) für die Führung einer Diskussion ist Sachlichkeit. Sachlich ist es nicht, wenn man einen Menschen auf Äußerlichkeiten reduziert. Insofern hat Herr Niggemeier angesichts dieses Zitates noch Nachholebedarf:
    „Das wäre aber eine erstaunliche Ungenauigkeit, wo er unmittelbar zuvor dem Bundespräsidenten, stotternd und sich verhaspelnd, vorgeworfen hat, unsauber zu formulieren.“
    .
    Wenn Sie recht überlegen, werden Sie feststellen, dass es auch ohne „stotternd und sich verhaspelnd“ geht.
    .
    Egal wie sehr Sie nicht mit Sarrazin einer Meinung sind, das muss nicht sein.

  5. @kleinerbroker: Sarrazin hat...
    @kleinerbroker: Sarrazin hat gestottert und sich verhaspelt, teilweise bis an die Grenze der Unverständlichkeit. Ich habe ihn nicht darauf reduziert, sondern es erwähnt, weil es mir auffiel.

  6. Kraskaja sagt:

    @georg s.
    Pardon, der...

    @georg s.
    Pardon, der Kommentar strotzt nur so vor Unkenntnis. Selbstverständlich hat Rassismus mit der Zugehörigkeit zu einer best. Religion zu tun. Rassismus ist ein Bestandteil geistigen Rechtsextremismus. Nachzulesen bei Heitmeyer/Decker/Brähler und zahlreichen anderen Forschern in diesem Bereich. Rassismus ist die Ausgrenzung/Stigmatisierung einer Grruppe nach ethnischen oder anderen (auch glaubensrelevanten) Merkmalen. Selbstverständlich ist der Tatbestand des Rassismus gegeben, wenn die Gleichheit, die allen vom Grundgesetz her zugesprochen wird, in Frage gestellt wird. Und genau das macht Sarrazin, wenn er größere Anforderungen an Muslime stellt als an alle anderen Bevölkerungsgruppen. Bitte belästigen Sie den Rest der Welt nicht mit IHRER Unkenntnis!

  7. Tunguska sagt:

    Dieser Mann ist es gar nicht...
    Dieser Mann ist es gar nicht wert auf ihn einzugehen. Genauso wenig wie einige Kommentare der Sarazzin-Fanboys hier.
    >Einwanderer aus Kasachstan, deren Kinder schon kein russisch mehr sprechen,
    HALLELUJA ! Sie sprechen eine Sprache weniger statt multilinguistisch zu sein ! Welch Erfolg für die Integration ! Deutscheeee … holt die Papphütchen raus !
    >Von den Argumentationslinien meines Buches ist bis heute eigentlich keine widerlegt oder auch nur hinterfragt worden.“
    Ich brauche dafür nur 2 Minuten und nicht mehr:
    Sarazzins Forderungen widersprechen seiner eigenen Realität teils selbst; er und seine Leser merken es nur nicht.
    Er schreibt Kinder brauchen einfach mehr Disziplin in der Schule.
    Das ist falsch.
    Er schreibt … Gantztagsschulen seien enorm wichtig und müssen gefördert werden.
    Auch das ist falsch.
    Selbst beschreibt Sarazzin wie schlecht er in der Schule gewesen sei, und sich erst durch eigene Anstrengungen beim lernen der Erfolg einstellte. Und er beschreibt ausserdem, wie der Lernstoff den sein Lehrer ihm versuchte einzuprägen, an ihm abprallte.
    Und … das ergibt Sinn.
    Menschen sind verschieden. Sarazzin lernte offenbar besser auf eigenen Antrieb hin statt auditiv – durch zuhören. Andere lernen besser durch auditive oder visuelle Präsentation des Lernstoffs, und andere durch mehr mechanische Methoden. Manche Schüler brauchen Disziplin, und andere zerbrechen daran. Ganztagsschulen bringen wiederrum gar nichts, weil sie Schüler in eine starre Umwelt zwingen mit der nicht jeder klarkommt. Ich kenne genug die auf solchen Schulen waren. Jemand der zu Hause besser lernen kann als in der Schule hätte hier massive Nachteile.
    Und weil Schüler eben KEINE Pferde und Hunde sind, mit denen Sarazzin sie verglich, braucht man eine weitreichende Palette an Werkzeugen um jeden Schüler bestmöglich zu fördern.
    Diese Dinge WISSEN wir eigentlich schon seid mindestens 40 Jahren. Und Frederic Vester hat dieses Wissen damals populär gemacht.
    *cheers* ~ Sarazzin hat mir bewiesen wie wenig Vorankommen es in der Gesellschaft gibt. Dafür sollte ich ihm und seinen Fanboys dankbar sein.
    Die Unterschicht von der er und seine Anhänger sprechen, repräsentieren sie selbst nur allzu perfekt. Es ist nur eben die geistige statt materielle Unterschicht.
    Wenn sie mehr Manfred Spitzer lesen würden statt Thilo Sarazzin, könnten sie daran vllt. etwas ändern. Aber der ist dann wohl doch nicht provokativ genug, nehme ich an ?

  8. Kim sagt:

    Und dann immer wieder die...
    Und dann immer wieder die Beschwerde, jemand, der mit Sarrazin über Integration diskutiert, habe dessen Buch nicht gelesen. Muss man sich einen solchen Schund geben, um sachlich über ein Thema zu reden, oder ist es nicht sogar hinderlich?

  9. @Kim: Naja, die Frage ist, ob...
    @Kim: Naja, die Frage ist, ob das eine Diskussionsrunde war zum Thema Sarrazins Buch oder zum Thema Integration. Die Diskutanten waren da unterschiedlicher Ansicht. Herr Jauch ließ es unbeantwortet.

  10. Lars sagt:

    Ich habe immer darauf...
    Ich habe immer darauf gewartet, dass irgendwer mal kommt und sagt: ‚Das und das in dem Buch ist falsch. Das und das ist logisch falsch, hier sind falsche Zahlen.‘
    Da kann man sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ich kann mich zB an das schöne Beispiel erinnern, bei dem er die Bevölkerung vom Stand 2010 über 100 Jahre hochrechnet. Spaßeshalber hat das das statistische Bundesamt auch mal gemacht und ist dann zu dem Ergebnis gekommen, dass mit den Daten von vor 100 Jahren heute in Deutschland 300 Mio Menschen leben würden.
    Was zeigt, wie akkurat Sarrazin arbeitet. Da kann man einfach nichts widerlegen.

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