Das Fernsehblog

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Von wegen sterbendes Medium: 225 Minuten sieht jeder von uns im Schnitt täglich fern. In diesem Blog stehen die Gründe dafür. Und die dagegen.

Die falschen Experten aus den Messie-Sendungen

| 35 Lesermeinungen

Fast alle großen Privatsender machen derzeit Quote mit Sendungen über so genannte Messies. Gezeigt werden bergeweise Unrat, verschimmelte Lebensmittel und vertrocknetes Ungeziefer. Dann kommt ein vermeintlicher Experte mit Räumtrupp und bringt alles in Ordnung. Dabei haben die meisten keine Ahnung, was sie da tun. Das Fernsehblog macht den Expertencheck – und fragt Fachleute, die es besser wissen.

Fast alle großen Privatsender machen derzeit Quote mit Sendungen über so genannte Messies – aber keiner erklärt, was Messies wirklich sind. Stattdessen werden bergeweise Unrat, verschimmelte Lebensmittel und vertrocknetes Ungeziefer gezeigt. Dann kommt ein Räumtrupp und bringt die Wohnung wieder auf Vordermann, manchmal lassen die Kamerateams die Leute aber auch einfach in ihrem Elend sitzen. Dabei bräuchten viele eigentlich professionelle Hilfe, weil der Müll oft nur ein Symptom für ernstzunehmende Probleme ist, die von einem Therapeuten gelöst werden müssten. (Mehr zum Thema steht in diesem Text, der heute auf der F.A.Z.-Medienseite erschienen ist.)

Das Fernsehen kümmert das nicht weiter. Es schickt lieber seine eigenen Experten, die zwar keinen Erfahrung im Umgang mit Leuten haben, die vom Messie-Syndrom betroffen sind. Dafür wissen sie aber, wie Geschichten sendetauglich erzählt werden.

Das Fernsehblog macht den Expertencheck – und fragt Fachleute, die es besser wissen.

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Ralf Seeger – „Messie-Coach“ bei Kabel 1 in „Achtung Messies!“
Eigentlicher Job: Free Fighter; „spielte“ schon „Anti-Gewalt-Coach“ in der RTL-2-Dokusoap „Mädchen-Gang“

Ralf Seeger kommt gleich zum Punkt: „Die Wohnung finde ich also, von den Bildern, die ich gesehen habe, echt scheiße – wirklich scheiße. Das könnt ihr euch wirklich auf die Fahne schreiben“, sagt er den jungen Eltern gleich im ersten Satz. Dann präzisiert er seine Ausführungen: „Ich würde mich als Elternteil schämen, mit meinen Kindern in so einer Müllhalde zu wohnen!“ Und: „Ich möchte hier nicht essen!“ Und: „Ich möchte meinen Kindern sowas nicht zumuten!“ Augenblicklich stellt der Kabel-1-„Messie-Coach“ klar: „Selber werd ich hier nicht putzen oder saugen – das ist euer Part!“ Er schaut der Mutter dabei zu, wie sie die Toilette schrubbt („Siehst du, da hat sich schon was gelöst“). Als er jedoch das angetrocknete Erbrochene im Kinderbett entdeckt, holt Seeger Unterstützung: sechs Reinigungskräfte in weißen Ganzkörperanzügen mit Atemmasken, die das, „was ihr nicht hingekriegt habt“, endlich erledigen. Die Eltern bleiben auf der Couch sitzen bis Seeger Vollzug meldet und mitsamt seinem Trupp wieder abhaut.

Kabel 1 schreibt der Mutter trotzdem restlose Begeisterung in die Bauchbinde. In die Kamera muss sie Seeger loben: „Der sagt einem die Sachen direkt ins Gesicht.“

Wedigo von Wedel vom Münchner H-Team, dass sich um Messie-Betroffene kümmert, hält das für totalen Quatsch: „Wenn die Betroffenen beim Aufräumen nicht gleichzeitig versuchen, sich auch im Innern zu ändern, wird das Chaos innerhalb kürzester Zeit wieder hergestellt – vor allem wenn von außen eingegriffen wird, ein Räumkommando in die Wohnung platzt oder zu schnell Veränderungen erzielt werden.“

Tine Wittler – „Wohnexpertin“ bei „Einsatz in 4 Wänden“ auf RTL
Eigentlicher Job: Wohnexpertin bei RTL

Immerhin: RTL suggeriert gar nicht erst, die Moderatorin seiner früheren Einrichtungsshow hätte irgendeine fachliche Kompetenz im Umgang mit Menschen, die – verursacht etwa durch schwerwiegende familiäre Probleme – ihre Wohnung nicht mehr unter Kontrolle haben. Anders als den Umgang mit den Messies überlässt Wittler die Sanierung der Wohnhäuser lieber den Profis. Sie klebt am Ende Dekofliesen in die Küche und stellt Boxen mit zusammengerollten Handtüchlein ins neue Bad. Als „Einsatz in 4 Wänden“ noch eine Einrichtungsshow war, hat das ja auch gepasst. Jetzt wirkt es geradezu absurd, wenn die Moderatorin erst in vorwurfsvoll-mahnendem Tonfall über den vielen Müll schimpft und nachher so tut als seien mit dem neuen Mobiliar auch die alten Probleme verschwunden.

Dr. Rainer Rehberger gehört zu den wenigen Ärzten, die sich in Deutschland mit der Erforschung des Messie-Phänomens befassen. Dazu, dass Betroffene überglücklich in die Kamera strahlen, weil sie womöglich glauben, mit dem Chaos auch dessen Auslöser losgeworden zu sein, sagt er: „Das ist blanke Illusion.“

Christel Lützenkirchen – in „Achtung Messies!“ bei Kabel 1 „die Frau, der die Messies vertrauen“
Eigentlicher Job: Hausfrau, TV-Köchin; gibt Kochtipps in der ZDF-Servicesendung „Volle Kanne“

Als Ausweis ihrer Fachkundigkeit hat Christel Lützenkirchen sich einen Staubwedel an ihr Auto montiert. Als sie in die Wohnung der unbekannten Frau kommt, der sie helfen soll, weiß sie gleich: „Sieht nicht gut aus hier, kann man schon sagen.“ Schlimmer noch: „ein Dreckstall!“, lauter „Schweinecken“, „da krieg ich ja Schüttelfrost“. Dann wird der Container angeliefert und zwei Ausräumer sollen das, was über Jahre hinweg angehäuft wurde, an einem Tag aussortieren und wegwerfen. Dabei will sich die Wohnungsbesitzerin von vielem gar nicht trennen. Geräumt wird trotzdem.

„Es lebt ja keiner freiwillig gerne in einer zugemüllten Wohnung“, sagt Jürgen Bernsen, der bei Frei-Raum Berlin in Messie-Wohnungen geht und mit den Leuten gemeinsam aussortiert. „Es gibt Gründe, und die erfährt man erst, wenn man mit den Menschen zusammen arbeitet, während des ganzen Prozesses. Ich muss ja sehen, wie es demjenigen dabei geht. Der kann mir zusammenbrechen. Das ist eine starke psychische Beanspruchung.“ Bei vielen setzt die Panik ein, wenn der Aufräumtrupp plötzlich vor der Tür steht – obwohl sie ihn vielleicht selbst gerufen haben. „Sobald es darum geht, zu handeln, kommen in vielen massive Widerstände auf, die sie sich oft selbst nicht erklären können“, sagt Wedigo von Wedel. Manche klammern sich sogar an verschimmelte Brotkanten, weil sie so sehr daran gewöhnt sind, sonst alles mit sich alleine auszumachen.

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[Verfremdungen: Fernsehblog]

Malwine Sydnaes – „Familienexpertin“ beim Sat.1-„Messie-Alarm“
Eigentlicher Job: Hebamme

Im „Horror-Haushalt“ gibt es ein vollgemülltes Kinderzimmer, das Malwine Sydnaes überhaupt nicht gefällt. Doch die alleinerziehende Mutter, bei der sich die Sat.1-„Familienexpertin“ angemeldet hat, ist völlig aufgelöst: „Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Wenn das Jugendamt ihr die Kinder wegnimmt, weiß sie es hingegen schon: „Ich werd mir dann das Leben nehmen.“ Und Sydnaes? Die sagt: „Ich komme in zehn Tagen wieder und hoffe, dass sich was getan hat.“ Dann überlässt sie die kleine Familie wieder ihrem Schicksal. Bis zum Kontrollbesuch in 10 Tagen.

Dass es sich bei den Müttern aus dem Sat.1-„Messie-Alarm“ wirklich um Menschen handelt, die am Messie-Syndrom leiden, ist zweifelhaft. Weil die Unordnung in den meisten der gezeigten Fällen bloß Ausdruck einer allgemein schwierigen Situation ist. (Und die Fälle aussehen als seien sie unter anderem aus der Sixx-Dokusoap „Junge Mütter, total überfordert“ neu zusammengeschnitten.) Echte Messies aufzufordern, einfach mal aufzuräumen und dann alleine zu lassen, wäre fatal. Professorin Gisela Steins von der Universität Duisburg-Essen hat sich wissenschaftlich mit der Problematik befasst und sagt: „Viele Messies haben einen hohen Depressionswert – es ist ja auch bei ganz vielen anderen psychischen Diagnosen so, dass die Leute blockiert sind, antriebslos.“ Genau deshalb ist vorsichtige Hilfe von außen notwendig.

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Juliane Kolletzki – „Aufräumexpertin“ in „Achtung Messies!“ bei Kabel 1
Eigentlicher Job: Moderatorin, Kinderbuchautorin

Da weiß die selbst ernannte „Fernseh-Fee“ auch nicht mehr weiter: Vor ein paar Wochen ist sie bei der alleinerziehenden Mutter und ihrem Teenager-Sohn in der Wohnung aufgetaucht und hat das Jugendzimmer entrümpelt. Inzwischen ist wieder alles vollgestellt. „Schlimmer als vorher“, sagt sie sauer. Und der Off-Sprecher ergänzt: „Alle Aufräumarbeiten, alle Appelle – umsonst.“ So ein Ärger: Jetzt muss sie „in der Messie-Wohnung wieder von vorne anfangen“.

Die Schimpferei bringt nur nichts. Jürgen Bernsen erklärt: „Die Leute müssen doch Vertrauen zu mir haben! Sonst geht die ganze Arbeit nicht. Die Menschen machen sich ja im übertragenen Sinne ’nackt‘ vor mir. Deshalb geht nichts von dem, was ich sehe oder erzählt bekomme, nach draußen.“ Im Fernsehen passiert in den meisten Fällen genau das Gegenteil.

Screenshots: Kabel 1, RTL, Sat.1

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35 Lesermeinungen

  1. ThorHa sagt:

    Leider kann ich in einer...
    Leider kann ich in einer freien Gesellschaft, aufbauend auf der Fiktion eines selbstbestimmten Lebens als Erwachsener, die Menschen nicht daran hindern, sich in solchen Dokushows zum Brot zu machen. Die wissen es nicht besser – oder erwarten tatsächlich Hilfe.
    Die Produzenten solcher, im Kern eindeutig menschenverachtender, Shows dagegen haben keine Entschuldigung. Vor dem Hintergrund ihres Intellektes und ihrer Ausbildung wissen sie genau, was sie tun. Und würden, so meine Vermutung, prima Wächter in einem sibrischen Arbeitslager abgeben. Die notwendige Menschenverachtung haben sie schon verinnerlicht.
    Gruss,
    Thorsten Haupts

  2. E.R.Langen sagt:

    Man könnte den Eindruck...
    Man könnte den Eindruck gewinnen, dass das Privatfernsehen sozial schwache und hilflose Menschen ausnutzt, um mit ihrer Herabwürdigung die Zuschauerquote zu erhöhen. So ist das aber sicherlich nicht, denn kein anständiger Mensch würde sich ja solche entbößenden Sendungen ansehen wollen.

  3. Raoul sagt:

    Nachdem letzte Woche im...
    Nachdem letzte Woche im Fernseh-Blog „Schwiegertochter gesucht“ das Thema war und ich mich schon über die „Vorführung“ von Menschen aufgeregt habe nun die Steigerung dessen. Ein Messie ist krank, die Seele sucht sich ihr Ventil im horten von Dingen jeglicher Art. Diese kranken Menschen vorzuführen ist schändlich. Warum hier die Landesmedienanstalten nicht eingreifen ist mir unverständlich. Es muss Grenzen geben, die nicht überschritten werden dürfen.

  4. Als Redakteur würde ich...
    Als Redakteur würde ich schnellstens eine Sendung erfinden, in der es um Frauen geht, die seit einer Vergewaltigung psychische Probleme mit Intimität und Sexualität haben. Dann schickt man einen fröhlich grinsenden Erotik-Coach (eigentlich Moderator) zu ihnen, der den „grauen Mäusen“ in schnell geschnittenen Bildern und wilden Kameraschwenks einen neuen Look verpasst, sie in neue sexy Klamotten steckt und sie in den Club schickt, um vor laufender Kamera Männer abzuschleppen – und wenn sie sich ziert, oder weint, oder Angst hat: einfach nicht so anstellen.
    Aber ich bin ja kein Redakteur. Und, wenn ich mir so manche Sendung ansehe, froh darüber.

  5. Dent sagt:

    Es gibt Grenzen, die nicht...
    Es gibt Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen und die sind zum Glück sehr hoch angesetzt, alles andere wäre Zensur. Meiungsfreiheit ist nunmal ein hohes gut und auch solcher TV-Müll fällt darunter.

  6. Markus Väth sagt:

    Kürzlich wollte mich Sat.1...
    Kürzlich wollte mich Sat.1 als Coach für eine solche Sendung rekrutieren; ich habe abgelehnt. Hier die ganze Story: https://mensch-chance.de/blog/sozialporno

  7. Raoul sagt:

    @Dent

    Die meinungsfreiheit...
    @Dent
    Die meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, das zu bewahren gilt. Meine Äußerung in Bezug auf Grenzen ist sicherlich emotional gefärbt und letztendlich entscheidet der Zuschauer.

  8. E.R.Langen sagt:

    @Dent: Mit Verlaub: das "hohe...
    @Dent: Mit Verlaub: das „hohe Gut“ (welch eine Phrase – nennen Sie mir doch ein „tiefes Gut“) Meinungsfreiheit meint das Verhältnis von Bürger und Staat. Es umfasst nicht eine Freiheit der Bürger untereinander, Schwächere zu missbrauchen.

  9. T.I.M. sagt:

    @E.R.Langen: Natuerlich gilt...
    @E.R.Langen: Natuerlich gilt die Meinungsfreiheit auch zwischen Buergern (GG Art. 5 (1-2) siehe unten). Das einzige Argument fuer Ihre Sicht waere der Schutz der persoenlichen Ehre, das aber hier vermutlich nicht greift, weil die Menschen weder beleidigt noch verluemded werden. Es gibt hingegen kein Gesetz, dass es verbietet, sich selbst zu demuetigen (ja, SELBST. Wenn man Markus Vaeths Bericht liest, wird klar, dass sich diese Leute in vollem Bewusstsein haben casten lassen).
    GG Art.5
    (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
    (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

  10. DW sagt:

    @ Dent:
    Zunächst möchte ich...

    @ Dent:
    Zunächst möchte ich E.R. Langen beipflichten* und ergänzen, dass jede Freiheit auch die Pflicht umfasst, damit verantwortungsvoll umzugehen (und: jede Freiheit endet bekanntlich dort, wo die Freiheit anderer eingeschränkt wird). Im Artikel 5 Grundgesetz heißt es übrigens:
    (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
    (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
    Und die oben beschriebenen Sendungen dürften eindeutig gegen Absatz 2 verstoßen. Leider wird dieser Absatz allzu oft vergessen, wenn mit der Meinungsfreiheit argumentiert wird.
    Solche Sendungen machen es Gegnern der Meinungsfreiheit leicht, gegen sie zu argumentieren und sie einzuschränken. Genau diese Art von Fernsehen nutzte auch Viktor Orbán auch als Argument, um sein Mediengesetz durchzudrücken und die ungarischen Medien gleichzuschalten. Ich bin mir sicher, dass das ungarische Fernsehen kein bisschen besser wurde, aber die kritische Berichterstattung wurde weitgehend abgeschafft.
    * Dent, würden Sie eigentlich auch einen Rollstuhlfahrer auslachen, der nicht in den Bus kommt, weil statt eines angekündigten Niederflurbusses ein älteres Modell mit Stufen und ohne Fläche zum Hinstellen kommt? Ohne Sie zu kennen: ich denke (und hoffe) doch nicht. Nach Ihrem Verständnis von Meinungsfreiheit wäre das aber durchaus legitim.

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