Martina aus Nordhorn ist pfandflaschensammelsüchtig, hat ihre ganze Wohnung mit Leergut vollgestellt und riskiert deswegen ihre Beziehung. Die 45-jährige Hundezüchterin Diana aus Reuth interessiert sich nur wenig für ihren Sohn, weil sie sich ständig um die Tiere kümmern muss. Heinz aus Wuppertal kann sich nicht entscheiden, mit wem er mehr Zeit verbringen will: seiner Mama oder seiner Freundin – deshalb kommt es zum Schrei-Showdown. Und die 53-jährige Hausfrau Gabi fühlt sich alleine, spricht deshalb mit Puppen und macht sich an den Lebensgefährten ihrer Tochter ran.
Wenn Ihnen diese Situationen bekannt vorkommen, haben sie entweder ein Problem. Oder mittags zuviel Zeit zum Fernsehen.
In seiner täglichen Reihe „Mitten im Leben“ dokumentiert RTL seit fünf Jahren den Alltag von Menschen, die ihre Fähigkeit, Konflikte zu lösen, in Dezibel messen. Was davon noch echt ist und was bloß nachgestellt, vermag vermutlich nicht mal der Redakteur vom Sender zu sagen.
Für ARD und ZDF sind die Prolldokus eine hervorragender Anlass, sich vom Programm der Privaten zu distanzieren und als schreifreie Alternative anzubieten. Scripted Reality kommt uns nicht auf den Sender, beteuern die Verantwortlichen. Ist ja auch gar nicht nötig. Längst haben die öffentlich-rechtlichen Sender ihre eigene Art der Alltagsaufarbeitung gefunden. Die wird sogar noch günstiger sein als bei RTL, weil dafür weder Prolls gebändigt noch Geschichten für Laientrupps erfunden werden müssen. Im besten Fall braucht’s statt eines ganzen Kamerateams auch nur einen engagierten Jungredakteur, der alle Jobs auf einmal erledigt.
Am Donnerstagabend startet ZDFneo seine Dokureihe „Junior Docs“, die (wie im Abspann steht) auf dem BBC-Format „Junior Doctors“ basiert, was schon die komplette Traurigkeit des Mainzer Fernsehschaffens auf den Punkt bringt. In der Reihe geht es schlicht und ergreifend darum, jungen Ärzten bei ihrer Arbeit über die Schulter zu sehen und sie kurz in den Feierabend zu begleiten. Selbst für diese simple Idee musste sich ZDFneo im Ausland inspirieren lassen – und hat dann auch noch die wesentlichen Merkmale des Originals weggelassen. Die BBC-Version bemüht sich schon durch ihre schnellen Schnitte und die laute Clubmusik, den Alltagsstress aus dem Krankenhaus ins Wohnzimmer der Zuschauer zu transportieren. Bei ZDFneo geht es deutlich gemächlicher zu.
In der Londoner Klinik jagt ein Krisenfall den nächsten, gleich am ersten Tag stirbt dem Ärzteteam ein Mann, der nicht mehr wiederbeatmet werden kann, unter den Fingern weg; im Hamburger Stadtteil St. Pauli müssen derweil Betrunkene nach einer Schlägerei wieder zugenäht werden und der für die Nachtschicht eingeteilte Jungarzt beschwert sich, dass keine Milch für den Kaffee da ist. Tja.
Viele Szenen der deutschen „Junior Docs“ sind so einfallslos betextet als sei die Reihe nicht für den hippen Jugendableger ZDFneo, sondern den schnarchigen Hauptkanal entstanden. Da geht’s „mit Volldampf Richtung Dokortitel“, die „Helfer in weiß“ versuchen „an ihren Aufgaben zu wachsen“ und jeder „hat sein Ziel klar vor Augen“. Der versprochene Jobeinblick ist „realistisch, respektvoll, rezeptfrei“, die junge Medizinerin „eine Frau zwischen Krankenhaus, Karriere und Kindererziehung“ – und der Texter offensichtlich gerade bei „Bauer sucht Frau“ rausgeflogen.
Dabei ist das, was die „Junior Docs“ zu erzählen haben, genauso interessant wie bei ihren britischen Kollegen, weil es um große Verantwortung geht und den wichtigen Schritt vom Hörsaal in die Krankenhausrealität, der vielen gar nicht so einfach fällt. Im Gegensatz zu den englischen Jungärzten sind die deutschen allesamt deutlich älter, erwachsener und weniger nervositätsanfällig. Ihnen bei der Arbeit zuzusehen, ist für 45 Minuten ganz nett. Aber warum’s dafür gleich eine ganze Reihe braucht, weiß wohl nur der ZDF-Redakteur, der’s durchgewunken hat.
Einsplus braucht keine Akademiker für seine neue Doku „Wir sind Deutschland“, die unter diesem Namen natürlich auch problemlos im Nachmittagsprogramm von Pro Sieben laufen könnte. Die SWR-Variante porträtiert Menschen, die ihre Träume verwirklichen wollen. Der 19-jährige Lennart zum Beispiel will erfolgreicher Modedesigner werden, zieht aus der Provinz nach Berlin und muss dort ein Fotoshooting organisieren. Nadja ist arbeitslos und vorübergehend alleinerziehende Mutter, weil ihr Freund wegen Einbruchs in der JVA sitzt. Der 27-jährige Leon streitet sich mit seiner Mutter, die es nicht gut findet, dass er den ganzen Tag nur trainiert, um als Naturalbodybuilder Deutscher Meister zu werden.
Das hört sich schon fast an wie bei RTL, ist aber respektvoll umgesetzt, weitgehend eskalationsfrei – und furchtbar egal. (Erste Folge bei einsplus.de ansehen.)
Auch wenn die Kulissen andere sind: Im Grund genommen funktioniert „Auf 3 Sofas durch…“, das ebenfalls bei Einsplus läuft, ähnlich: Thomas Niemietz besucht im Ausland junge Leute, mit denen er sich unterhält, essen und feiern geht, bis er am nächsten Tag zur nächsten Schlafcouch weiterzieht. Sabine Heinrich ist vor einiger Zeit für den WDR schon mal so ähnlich couchgesurft, um junge Europäer ihrer Generation zu fragen, wie sie unter der Eurokrise leiden. So weit reicht das Interesse des Unterwegsreporters Niemietz leider nicht. In Tel Aviv lernt er in der WG seines ersten Gastgebers, dass jede Wohnung in der Stadt einen bombensicheren Raum haben muss und sich im Bus immer alle nach dem sichersten Platz umsehen; auf dem Weg zum Strand kriegt er die Stelle gezeigt, an der es den letzten großen Selbstmordanschlag mit 30 Toten gab und erklärt dann munter: „Kein Grund, nicht weiter zum Strand zu fahren.“ (Komplette Sendung bei einsplus.de ansehen.)
Es erwartet ja niemand eine sofortige Investigativrecherche zum Nahostkonflikt – aber wer so wenig Lust hat, Fragen zu stellen, die etwas über die (traurigen) Besonderheiten des Lebens in der besuchten Stadt verraten, der kann sich seine Kamerabilder eigentlich auch für den privaten Homevideo-Abend sparen.
Natürlich lässt sich den Alltagsreportagen der Privaten vorwerfen, dass sie stets auf Konflikte und Krawall setzen, immerhin ist das aber ein klares Ziel. Ihre öffentlich-rechtlichen Pendants mögen seriöser, echter und näher dran sein am Alltag der Porträtierten. Ohne einen eigenen, originellen Ansatz sind sie leider aber auch komplett austauschbar.
ZDFneo zeigt „Junior Docs“ donnerstags um 20.15 Uhr in Doppelfolgen; „Wir sind Deutschland“ läuft sonntags um 20.15 Uhr bei Einsplus, „Auf 3 Sofas durch…“ donnerstags zur selben Zeit.
Screenshots: ZDFneo, Einsplus
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