Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Das Leben der Adèle

"La vie d'Adèle. Kapitel 1 & 2" gewinnt die Goldene Palme von Cannes. Alain Guiraudie bekommt den Regiepreis des Certain Regard für "L'ìnconnu du lac" - zwei große Preise für die schwulsten Filme des Festivals, das ist ein politisches wie auch ästhetisches Zeichen.

Ich hätte mir einen anderen Ausgang gewünscht, aber so ist es nun mal, und gut ist es auch: „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche gewinnt die Goldene Palme. Hatten es die Franzosen nicht vorhergesagt? Der Film über die Liebesgeschichte zwischen einer Malerin und einer jungen Lehrerin, der mehere Jahre überbrückt, war der Liebling der französischen Kritik. Es ist tatsächlich ein wunderbar leichthändig wirkender Film, der dabei zuschaut, wie Adèle, zu Beginn noch Schülerin, herausfindet, dass sie mit Frauen mehr Lust empfindet als mit Männern, vor allem mit einer, die blaue Haare hat und deutlich älter ist als sie. Kechiche hat dem Titel noch hinzufügt „Erstes und zweites Kapitel“ – nach dem Erfolg werden ein drittes und viertes möglicherweise folgen. „Adèle – ich habe da schon an Truffauts Antoine Doinel gedacht“, sagte Kechiche in Cannes. Ich auch!

© dpaAdèle Exarchopoulos (r.) und Lea Seydoux haben ihren Regisseur Abdellatif Kechiche mitsamt Goldener Palme in die Mitte genommen

Dass der Film irgendetwas hier gewinnen würde, war klar. Ein neues Reglement sagt, ein Preis pro Film. Als daher der Preis für die beste Hauptdarstellerin an Berenice Bejo (in Asghar Farhardis „Passé“) ging – ein Preis, den auch Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos in Kechiches Film verdient hätten -, konnten wir uns ausrechnen, dass für „Adèle“ mehr drin sein würde. Aber die Goldene Palme gleich? Dafür fehlt mir doch einiges, und anderes ist zu viel. Es gibt Hinweise auf  Klassenverhältnisse in diesem Film, ganz schwach, da hätte ich gern mehr erfahren und dafür auf eine der langen Sexszenen verzichtet. Oder auch die spießige Rollenverteilung zwischen den beiden Frauen – die eine liest, die andere spült. So selbstverständlich ist das doch nicht, oder sind die Lesben den Heterosexuellen derart hinterher in ihrer sozialen Entwicklung? Aber Abdellatif Kechiche ist schon der richtige Regisseur für diese Auszeichnung. „Adèle“ vielleicht nicht der richtige Film.

© dpaAlain Guiraudie freut sich über den Regiepreis für seinen Film “L’Inconnu du Lac”

Das schwule Thema allerdings ausgerechnet in Cannes derart ins Rampenlicht zu stellen: Sehr gut! Schon heißt es: „Eine historische Entscheidung!“ In der Sektion „Un certain regard“ gewann der andere explizit schwule Film (Alain Guiraudies „L’inconnu du lac“) ebenfalls – zwar nicht den Haupt-, aber den Regiepreis. Diese beiden Filme mit ihren Hardcore-Bildern auszuzeichnen, ist schon ein Zeichen für einen Zugewinn an ästhetischer Freiheit mit homosexuellem Sex. Dem Dilemma mit der Regel „ein Preis pro Film“ ging die Jury übrigens listig aus dem Weg. Sie vergab die Goldene Palme an „ ,La vie d’Adèle` von Abdellatif Kechiche mit Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux“.

© AFPNahmen für die Coen-Brüder den Preis entgegen: Die Schauspieler Oscar Isaac (l.) und Kim Novak mit dem Studiocanal-Chef Olivier Courson

Für die Coen-Brüder, lange favorisiert, bleibt da nur der Große Preis des Festivals für ihren Film über die Folkszene im New York der Sechziger. Er war mit Jia Zhangkes „A Touch of Sin“ mein Favorit. Dieser musste dann mit dem Drebuchpreis zufrieden sein. Und Steven Soderbergh mit seinem Fernsehfilm über Liberace ging ganz leer aus. Selbst Michael Douglas, den ich mit zahlreichen anderen als fast sicherern Gewinner des Darstellerpreises gesehen hatte, musste Bruce Dern weichen. Der spielt in dem schwarzweißen „Nebraska“ von Alexander Payne einen halbdementen, bockigen Alten – wunderbar, ihn mal wieder zu sehen, schön, dass einer der alten Amerikaner auf dem Festival einen Preis mit nach Hause nehmen kann.

Ein Kollege hatte heute früh, nach seiner Prognose gefragt, gesagt: „Wenn sich die Jury weder auf die Coens noch auf Kechiche einigen kann, wird James Gray mit „The Immigrant“ die Goldene Palme“ kriegen. Welchem Algorithmus sich der Gewinn des Regiepreises für den Mexikaner Amat Escalante (für „Heli“) verdankt, kann ich nicht mal ahnen, jedenfalls ist dieser Preis eine Überraschung. Escalante schockierte uns gleich zu Beginn des Festivals, als alle noch in „Gatsby“-Laune waren, mit Bildern brennender Genitalien und anderer Foltermethoden zurück auf den Boden häßlicher Tatsachen, von denen wir im Folgenden noch eine ganze Menge sahen. Aber kaum einer konnte dem Film sonst etwas abgewinnen, und auf den Punktelisten der Kritiker war er eines der Schlusslichter. Was ja nur heisst: Kritiker können irren, eine Jury auch.

Es gab Menschen, die bedauerten, Cannes hätte in diesem Jahr nicht den einen großen Knaller gebracht, der alle sofort hinter sich bringt – was aber sowieso fast nie passiert, vielleicht mit Ausnahme vom letzten Jahr, als kaum jemand an dem Erfolg von Haneckes „Liebe“ zweifelte. Aber dieses Jahr war das bessere Jahr, weil es insprierender war – die Filme disparat, zärtlich, brutal, langsam, wild, nostalgisch, wütend und manchmal auch gewagt.

Die Preise im einzelnen:

Goldene Palme:

LA VIE D’ADÈLE – CHAPITRE 1 & 2 (Blue Is The Warmest Colour) von Abdellatif KECHICHE mit Adèle EXARCHOPOULOS & Léa SEYDOUX

Großer Preis:

INSIDE LLEWYN DAVIS von Ethan COEN, Joel COEN

Preis für die beste Regie:

Amat ESCALANTE für HELI

Preis der Jury:

SOSHITE CHICHI NI NARU (Like Father, Like Son / Tel Père, Tel Fils) von KORE-EDA Hirokazu

Bestes Drehbuch:

JIA Zhangke für TIAN ZHU DING (A Touch Of Sin)

Beste Hauptdarstellerin:

Bérénice BEJO in LE PASSÉ (The Past) von Asghar FARHADI

Bester Hauptdarsteller:

Bruce DERN in NEBRASKA von Alexander PAYNE

Kurzfilme:

Goldene Pame                                          SAFE von MOON Byoung-gon

Besondere Erwähnung / ex-aequo    HVALFJORDUR (Whale Valley / Le Fjord des Baleines) von Gudmundur Arnar GUDMUNDSSON und 37°4 S von Adriano VALERIO

Die Preise für die offizielle Nebenreihe „Un certain regard“ wurden gestern schon vergeben. Unter dem Vorsitz von Thomas Vinterberg entschied sich die Jury für:

Preis Un certain regard: „The Missing Picture“ von Rithy Panh

Preis der Jury: „Omar“ von Hany Abu-Assad

Regiepreis: Alain Guiraudie für „L’inconnu du lac“

Preis „Certain talent“: für das Darstellerensemble von „La jaula e oro“ von Diego Quemada-Diez

Preis „Avenir“: für „Fruitvale Station“ von Ryan Coogler.