
Auf zwei unbesetzte Stühle weist die Jury des Filmfestivals von Venedig ausdrücklich hin. Der ukrainische Regisseur Oleg Sentsov fehlt auf dem ersten; er ist in Russland inhaftiert, unter Terrorismusverdacht, höchstwahrscheinlich aber in Wahrheit, weil er die Art kritisiert hat, wie Wladimir Putin das Heranrücken der europäischen Union und der Nato an seine Westgrenze zu unterbinden sucht. Der zweite Stuhl wartet auf Mahnaz Mohammadi, eine iranische Regisseurin, die sich in ihrer theokratischen Heimat gegen die scheußliche Geschlechterpolitik des dortigen Regimes ausgesprochen hat. Auch sie wurde eingesperrt. Berühmte Filmschaffende, vor allem solche aus dem globalen Norden und Westen, haben gegen die Behandlung der beiden Abwesenden protestiert. Nördliche und westliche Kunst machen nördliche und westliche Politik, und beides können Leute als Unterstützung manchmal dringend gebrauchen, die vielleicht sogar eine andere als westliche und nördliche Politik und Kunst machen würden, wenn man sie nicht mehr an jeder Kunst und jeder Politik hindern würde. Dass eine nördliche und westliche Einrichtung wie die Jury von Venedig an ihrem Ort wenig riskiert, wenn sie Leute ehrt, die anderswo sehr viel riskieren, ist ein Widerspruch, aber kein schlimmer – wer sich überhaupt verbindlich zu irgendetwas äußern will, muss fast immer zwischen Widersprüchen navigieren, zum Beispiel zwischen introvertierter Trauer und expressiver Empörung (wie fast jeder Film, der ein Unrecht behandelt) oder zwischen Wahn und Wirklichkeit (wie fast jeder Film, der nicht nur Verhalten, sondern Psychologie behandeln will) und schließlich zwischen Tragödie und Komödie (wie fast jeder Film, der sich für einen dieser beiden Pole entschieden hat und eben deshalb den anderen nicht entbehren kann). Man glaubt daher dem Regisseur Alejandro González Iñárritu jedes Wort, wenn er bei der Mittagskonferenz am ersten Tag des Festivals seinen „Birdman“-Hauptdarsteller Michael Keaton, der in diesem Eröffnungsfilm wahrhaftig alles gibt, was er hat, vor allem dafür lobt, jener könne zwischen dem Witzigen und dem Ergreifenden seinen Weg wie im Traum finden. Keatons Spiel hat ihm in der Vergangenheit das Lob eingetragen, er sei ein großes Kind, vermittle ansteckende Freude am Sichverkleidendürfen – aber solche Unterstellungen heiliger Unreife gibt man ganz auf, wenn man plötzlich ein wirkliches Kind spielen sieht, einen kleinen Jungen, der einen nicht besonders blutigen, aber sehr grausamen politischen Film zusammen mit einem alten Mann durchquert und bei der Vorführung dieses Films in Venedig persönlich anwesend ist.

Ein Bub in Militäruniform, von seinem Regisseur auf den Ehrenplatz geleitet, sichtlich stolz, die Menge fotografiert, applaudiert, setzt sich, und weil wir alle den Film noch nicht kennen, finden wir den Burschen niedlich. Dann läuft (nicht im Wettbewerb, sondern in der Reihe Orizzonti) „The President“ des Iraners Mohsen Makhmalbaf, die Geschichte eines Diktators in einem nicht näher bezeichneten, vermutlich aber östlichen und südlichen Land, der gestürzt wird, die Fluchtgelegenheit verpasst und nun mit seinem Enkel das Land in Richtung Grenze durchqueren muss, in dem seine Herrschaft die Menschen gegängelt, gequält, ausgeraubt, überwacht, verhetzt und verdorben hat. Wir sehen das nicht, wie die Phrase will, „mit den Augen eines Kindes“, sondern wir sehen das Kind, wie ihm die Erwachsenen sagen, es solle nicht hinsehen. Zu sehen gäbe es – aber das meiste davon wird nicht gezeigt, wenn wir es auch immer irgendwie erleben, sei es akustisch, sei es auf andere Art indirekt – Folterfolgen, Vergewaltigung, Massaker an Zivilpersonal, und der Alte und das Kind entkommen nicht. Die beiden Schauspieler, der weißbärtige, sehnige, charismatische Misha Gomiashvili, und der großäugige, verzogene, schüchterne und ahnungslos unmenschliche Dachi Orvelashvili, können einander nicht retten, aber eben darin liegt bei dieser auf reine Musik und ozeanische Bereitschaft zur Vergebung hinauslaufenden Geschichte etwas wie Hoffnung: Die Mächtigen, die Schuldigen, sind für sich genommen einfach trotzige Buben und starrsinnige Greise, nur gehorchen darf man ihnen nicht. Ein sehr guter Film also – aber einer, bei dem ich mich dauernd fragen musste: Wenn der Junge da hinten auf dem Ehrenplatz mein Sohn wäre, würde ich ihm erlauben, in so einem Film mitzuspielen? Vielleicht, aber anschauen dürfte er ihn nicht – noch so ein Widerspruch, wie der Kontrast zwischen den Glamourgestalten bei der feierlichen Abendvorstellung von „Birdman“ und den Frauen und Männern, die am Autokorso und um den Zugang zur Promi-Bühne plötzlich Schilder und Transparente hochhalten, die gegen irgendwelche sozialpolitischen Maßnahmen der italienischen Regierung protestieren, was mir aber niemand unter den Journalistinnen und Journalisten, die mit mir hier ihre Arbeit tun, übersetzen kann – eine Engländerin meint nur: „Geschieht uns recht, dauernd gucken wir politische Filme, und dann wundern wir uns, wenn die Alltagsmenschen, von denen wir gedacht haben, sie sind hier, um die Stars zu bewundern, plötzlich auch irgendwas Politisches wollen.“