Im letzten Sommer saß ich einmal für eine Stunde in einem lauschigen Hinterhof im Prenzlauer Berg und sprach mit Edward Berger über seinen Film “Jack”. Der hatte vor einem Jahr auf der Berlinale Premiere gehabt, nun stand der Kinostart bevor, deswegen das Interview. Gegen Ende kamen wir auf künftige Projekte zu sprechen. Er erwähnte eine Fernsehserie, viel mochte er noch nicht sagen, nur so viel: “Kalter Krieg”, und NATO-Manöver. Ich schlug ihm vor, sich Frederick Wisemans “Manoeuvre” anzusehen, einen Dokumentarfilm aus dem Jahr 1979, der würde gut zum Thema passen.

Heute Nachmittag gibt es auf der Berlinale zwei Folgen aus “Deutschland 83” zu sehen, und am Abend wird Edward Berger in der Berlinale Lounge über das Projekt sprechen. Die Berlinale geht “in Serie”, das überrascht nicht bei einem Festival, das in alle Richtungen hin expandiert. Dass diese Beschäftigung konkret eher in Form von Teasern stattfindet, das trübt ein bisschen den Eindruck, und wirft ein bezeichnendes Licht auf ein Festival, das so vieles antippt, aber selten erkennbare Prioritäten setzt.
Zu dem Boom der Serien trägt für meine Begriffe auch bei, dass man sie als Konzentrationsübungen sehen kann. Sie bringen uns dazu, wieder in längeren Einheiten zu denken, wenn in den besten Fällen manche Momente von Suspense über viele Folgen hinweg entwickelt werden. Die Serien sind ein Indiz dafür, dass es in der Informationsgesellschaft niemals nur in eine Richtung geht (zum Beispiel hin zu immer kürzeren Aufmerksamkeitsspannen), sondern dass wir hier komplexe Wechselwirkungen beobachten können.
Das Festival bildet ja selbst diese Verschränkung von Logiken ab, denn es inszeniert eine Situation grundlegender Überforderung (niemand kann 400 Filme in zehn Tagen schauen), die sich aber immer wieder in dem Moment, in dem eine Vorführung beginnt, in etwas anderes auflöst: nämlich in dieses absorbierende und stimulierende Erlebnis, für das wir eben das Wort Kino haben.
Im Panorama hat heute eine Dokumentation Premiere, die diesen emphatischen Begriff auf eine wunderbare Weise mit Leben füllt. Der brasilianische Regisseur Walter Salles hat seinen chinesischen Kollegen Jia Zhang-ke in dessen Heimat besucht. Fenyang, eine Stadt in den wenig einladenden Bergbaurevieren nordwestlich von Beijing. Hier ist “Zhantai” (“Platform”, 2000) entstanden, eine epische Erzählung von der Verwandlung des kommunistischen China in eine marktwirtschaftliche Gesellschaft, der die politische Freiheit vorenthalten wird.

Es ist einer der ganz großen Filme der neueren Zeit, und wir kennen ihn nur in verstümmelter Form, denn er musste für die Asuwertung gekürzt werden. Ich war also dementsprechend elektrisiert, als der Regisseur in “Jia Zhang-ke, um homem de Fenyang” erwähnt, dass er sich mit dem Gedanken trägt, einen Director’s Cut herzustellen. Außerdem will er wohl eine Fortsetzung drehen. Doch all das hängt ein bisschen in der Luft, weil die Behörden in China seine Projekte hintertreiben.
Die berührendsten Momente in diesem Porträt sind die, in denen Jia Zhang-ke von seinem Vater spricht: ein Intellektueller, dem daran gelegen war, dass seine Kinder in einem Haushalt mit Büchern aufwachsen, auch wenn das in der Kulturrevolution als eine der übelsten bourgeoisen Sünden galt. Der Vater hatte später immer wieder Angst um seinen Sohn, der als dissidenter Künstler, und der Sohn war besorgt um seinen Vater, dem er Aufregung ersparen wollte.
Walter Salles macht uns mit einem Mann bekannt, der eigentlich viel zu zurückhaltend ist, um von sich Aufhebens zu machen, der aber gut genug weiß, dass er selbst einer der wichtigsten Zeugen für die Entwicklung Chinas ist. Deswegen gibt er hier viel von sich preis, und wir können zumindest in Ansätzen die Verlusterfahrungen nachvollziehen, aus denen sich dieses große Werk speist.
Es gehorcht in vielerlei Hinsicht selbst den Logiken einer Serie: Schauspieler tauchen immer wieder auf, die Orte sind die gleichen, Erzählungen schreiben sich fort, Geschichte sedimeniert sich in fiktionalen Schichten. “Berlinale goes Serie”, das gilt wohl noch deutlich über den Schwerpunkt hinaus, den das Festival gesetzt hat.