
Heute bin ich über den roten Teppich gelaufen, die Treppen hoch und hinein in den riesigen Saal Lumière. Das ist an sich noch nicht ungewöhnlich, ich laufe da jeden Tag hoch, allerdings morgens um kurz nach acht zur ersten Vorstellung des Wettbewerbs, wenn noch niemand hohe Absätze und Kleider trägt, die aussehen, als seien sie aus den gefalteten, von eingeschnittenen Mustern durchlöcherten Papierbögen genäht, die wir als Kinder zur Dekoration ans Fenster klebten. Wenn noch keine Musik läuft und die Fotografen noch nicht Spalier stehen. Morgens um kurz nach Acht sind selbst der rote Teppich und die Stufen zum Palast hinauf eine glamourfreie Zone. Nicht so am Nachmittag.
Heute Nachmittag aber gab es nicht nur große Roben wie immer und strahlende Sonne wie nicht so oft in diesem Jahr, sondern einen politischen Protest. Das ist ungewöhnlich. Ungewöhnlicher noch, dass er im Saal weiterging und das Festival offenbar nichts dagegen hatte. Ihn vielleicht sogar genehmigte.
Es protestierten nämlich die Brasilianer, genauer das Team hinter dem Film „Aquarius“ von Kleber Mendonca Filho, dem schon vor der Premiere einiges zugetraut wurde, weil der Festivaldirektor ihn ausdrücklich als besonders sehenswert deklariert hatte. Das Team bestand aus zehn oder zwölf Leuten, das ist wegen der Kontrolleure und Sicherheitsleute drumherum nicht so leicht zu sagen, und diese zehn oder zwölf blieben oben auf der Treppe stehen, drehten sich um und hielten weiße Zettel vor die Brust und in die Kameras der Weltpresse. „We will resist“, war darauf zu lesen, oder „Brazil is no democracy“. Im Saal entfalteten sie noch ein Banner mit grüner Schrift, auf dem stand „Stop the coup d’etat in Brazil“. Die Zuschauer applaudierten heftig, weil sie offenbar auch gegen die Absetzung der Präsidentin Dilma Rousseff sind, möglicherweise aber auch, weil Sonia Braga wie eine stolze Königin in den Saal gekommen war.

„Aquarius“ ist ihr Film. Sie ist eine Schönheit, immer gewesen, in Brasilien kennt sie offenbar jedes Kind, und ältere erinnern sich daran, dass sie als Sexsymbol angesehen wurde, was wieder einmal zeigt, wie wenig wir voneinander wissen. Sie spielt Clara, eine fünfundsechzig Jahre alte ehemalige Musikkritikerin, die in einem Haus direkt am Strand wohnt, aus dem eine Immobilienfirma alle anderen Mieter bereits herausgekauft hat. Clara aber will nicht verkaufen. Und während sie sich mit den Schikanen der Immobilienhaie herumschlägt und mit ihren erwachsenen Kindern diskutiert, was zu tun sei, und sich streitet, sickern Erinnerungen in die Erzählung, die gleichzeitig aber auch Elemente enthält, die mit Wohnungskrise und Vorleben nichts zu tun haben, den Besuch eines Gigolos etwa, den sie bezahlt, oder den Geburtstag ihrer Haushälterin. Das Ganze ist lose verwebt, voller Musik, vor allem von Schallplatten, und ist letztlich in erster Linie eine Hommage an diese Darstellerin. Sonia Braga nahm die Ovationen hin, als hätte sie mit nichts anderem gerechnet. Hocherhoben, wie sie durch den Film gegangen war bis zum krönenden Abschluss, wenn sie ihren Peinigern ein Termitennest auf den Konferenztisch kippt, das diese im Dachgeschoss platziert hatten.
Das Lied, das dazu spielte, habe ich nicht erkannt. Aber „Another one bites the dust“ von Queen, das am Anfang über den Strand wummerte, schon. Zum Einmarsch ließen die Künstler vor einem landestypischen Song und vor dem Entfalten ihrer Protestnoten Bob Dylas „Mama you`ve been on my mind“ spielen. Und mittendrin Sonia Braga. Das wird vermutlich nicht die Goldene Palme. Aber ein schöner Abend wurde es.