
Venedig droht der Untergang. Aber nicht durch die Meeresfluten, die viermal im Jahr für Aqua alta sorgen, sondern durch die Flut der Tagestouristen. Im August wurde der Fahrdamm, der die Stadt mit dem Festland verbindet, mehrfach wegen Überfüllung gesperrt. Jetzt denken die Kulturverantwortlichen Italiens über Sperranlagen nach, die den Zustrom zu den Hauptattraktionen wie der Rialtobrücke, dem Markusplatz und der Seufzerbrücke regulieren sollen, meldet die „Repubblica“. Anlass der politischen Denkversuche ist ein in der „New York Times“ erschienener Artikel des angesehenen Archäologen Salvatore Settis zur Lage der Lagunenstadt. Im kommenden Jahr könnte Venedig seinen Welterbestatus verlieren, wenn es die Auflagen der Unesco weiter ignoriert. Noch schlimmer aber als der drohende Imageschaden ist der Exodus der Bevölkerung. Seit den achtziger Jahren hat die Altstadt die Hälfte ihrer Bewohner verloren, heute sind es gerade noch sechsundfünfzigtausend. Die Zahl der Tagestouristen stieg dagegen von zwanzig auf dreißig Millionen pro Jahr. Venedig, schreibt Settis, werde buchstäblich konsumiert: die Serenissima als Kulturburger.
Die venezianische Polit-Kamarilla hat auf den Brandbrief des Archäologen auf die übliche Weise reagiert. Settis, heißt es, habe keine Ahnung, wie die Dinge hier stünden, denn erstens wohne er in Pisa, und zweitens komme er aus Kalabrien. Es gibt Gewohnheiten in Italien, auf die man sich verlassen kann. Der campanellismo, das Kirchturmdenken, gehört dazu.

Vielleicht gibt es dann irgendwann auch eine Zugangsbeschränkung am Lido, die die Zahl der Selfies machenden asiatischen Ehepaare und Reisegruppen reduziert. Andererseits hat der Festivalbetrieb diese Form der Trophäenjagd selbst heraufbeschworen. Und womöglich ist das, was die Stars auf dem roten Teppich machen, ja auch eine Art Selfie, nur auf dem Umweg über Dritte.
Inzwischen haben Alicia Vikander und Michael Fassbender, die sich auf dem Set von „The Light Between Oceans“ ineinander verliebten, ihr frisches Glück so oft vor dem Kameraaugen des Publikums aufgeführt, dass es schon nicht mehr frisch ist. Maria Callas und Pier Paolo Pasolini, die sich vor fünfzig Jahren, wie ebenfalls die „Repubblica“ recherchiert hat, auf eine Barke in einem Lido-Kanal zurückzogen, genossen da noch den antiquierten Luxus der Privatheit. Vielleicht waren sie ja, denkt man an Pasolinis Homosexualität, auch kein richtiges Paar.

Im Hauptprogramm des Festivals lief derweil die italienische Dokumentation „Spira mirabilis“, ein Film, der mit dem alten Projekt von Peter Greenaway Ernst macht, das Kino müsse von „life, death and the universe“ handeln, also von allem und jedem und vom All sowieso. Man sieht ein Labor in Japan, in dem Quallen gezüchtet und untersucht werden; ein Instrumentenbauerteam in der Schweiz, das Ufo-artige Klangkörper aus Metall konstruiert; die Restauratorenwerkstatt des Mailänder Doms; Super-8-Familienfilme, Schneestürme, Lakota-Indianer, die von ihren Mythen und ihrem Vorbild Crazy Horse erzählen, und so fort. Bei manchen Filmen, und dieser gehört dazu, muss man sich die Freiheit nehmen, Robert Gernhardt zu zitieren: „Mein Gott, ist das beziehungsreich, / ich glaub’, ich übergeb’ mich gleich.“ Und vielleicht sollte man auch mal darüber nachdenken, ob es auf Dauer wirklich eine gute Idee ist, Spiel- und Dokumentarfilme in den Festivalwettbewerben zusammenzuspannen. Terence Malicks Dokutrip „Voyage of Time“ werde ich mir am Dienstagabend natürlich trotzdem anschauen. Man schaut halt immer gern bei denselben alten Bekannten vorbei.
Die letzte Meldung: In Venedig ist ein pensionierter Gymnasiallehrer dabei erwischt worden, wie er an eine Seitenwand der Kirche Santa Lucia e Geremia pinkelte. Zwei Beamte nahmen ihn fest und brachten ihn auf die Questura, wo seine Personalien erfasst wurden. Gegen den Mann wurde eine Geldstrafe von zehntausend Euro verhängt. Der Pinkler ist Italiener, hatte aber dennoch keine Chance, sich auf sein Eingeborenenrecht zu berufen: Er stammt aus Catanzaro.