Im Dogenpalast läuft bis November eine Ausstellung zum fünfhundertsten Jahrestag der Gründung des Ghettos, die einen imposanten Abriss der Geschichte dieser seltsamsten aller venezianischen Erfindungen bietet. Das Ghetto, 1516 auf Anordnung der Signoria eingerichtet, war ja nicht nur Instrument der Kasernierung und Überwachung, sondern auch ein Mittel zum Schutz der jüdischen Bevölkerung der Stadt. Bis zu seiner zwangsweisen Auflösung unter Napoleon hat es hier nie ein Pogrom gegeben. Statt dessen blühten die Buchdruckerei, die Weberei, das Bankenwesen und das Kunsthandwerk, wie man in zahlreichen Vitrinen und auf Monitoren sehen kann, die die Entwicklung des jüdischen Viertels durch die Jahrhunderte nachzeichnen. Dennoch fehlt der mit Folianten, Gemälden und Silbergefäßen prunkenden Schau etwas Entscheidendes. Es ist das, was man auf neudeutsch ein Narrativ nennt, eine verbindende Erzählung. Das Drinnen und Draußen, das jüdische und das nichtjüdische Venedig, kommen in den Ausstellungssälen nie wirklich in Kontakt. Von Handwerkerfleiß und Armenhilfe, von religiöser Blüte, christlichen Vorurteilen und streng geregelten Kontaktmechanismen ist die Rede, aber wie sich der Gang der venezianischen und der europäischen Geschichte in den Gängen der hohen Häuserblöcke im Sestier Cannaregio spiegelte, erfährt man nicht. Das Fremde in seiner Fremdheit zu zeigen und es uns zugleich vertraut zu machen, ist halt doch nicht so einfach, wie mancher denkt.
In der Festivalreihe „Giornate degli Autori“ sah ich vor drei Tagen eine Dokumentation, die den Bürgerkrieg in Syrien als Home Movie nacherzählen will. „The War Show“ ist eine mit Youtube-Material ergänzte Montage von Privatvideos der syrischen Radiomoderatorin Obaida Zeytun und ihrer Freunde, von denen viele die Filmpremiere nicht mehr erlebt haben. Die Videos handeln von einer Gruppe von Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die nichts anderes wollen als das, was für ihre Altersgenossen in Westeuropa selbstverständlich ist, freie Wahlen, freie Medien, freie Meinungsäußerung, und die den arabischen Frühling zum Anlass nimmt, es auf den Straßen einzufordern. Was diesen Leuten passiert, ist erschütternd, und dennoch hat der Film mich gleichgültig gelassen. Er erzählt nichts. Er verdichtet nichts. Er fügt nur visuelle Schnipsel zusammen und gibt die Erklärungen dazu als Voice-over. Am Ende, als er den Zusammenhang zwischen den Waffenlieferungen, der Politik der benachbarten Großmächte und der Radikalisierung der Oppositionsgruppen darstellen will, verliert er vollends den Faden. Es steckt eine Geschichte in „The War Show“, aber es ist nicht die Geschichte dieses Krieges. Es ist die Tragödie einer verlorenen Generation, und über sie müsste man einen Kinofilm drehen, der diesen Namen verdient.
In derselben Filmreihe wurde am nächsten Tag ein Regiedebüt aus Kroatien gezeigt: „Ne gledaj mi u pijat“ von Hana Jušić. Der Titel bedeutet auf deutsch so viel wie „Hör auf, auf meinen Teller zu starren“. Es ging um Marijana, ein Mädchen aus der Küstenstadt Šibenik, die mit ihrer mürrischen Mutter, ihrem arbeitslosen Vater und ihrem leicht debilen Bruder in einer Zweizimmerwohnung lebt und in einem Krankenhauslabor das Geld für die Familie verdient. Ich muss zugeben, dass ich im Leben schon ein paar Dutzend solcher Filme gesehen habe. Kinodebüts handeln von dem, was die Regisseurinnen aus eigener Anschauung kennen, egal ob in Mali, Kamtschatka oder bei den Inuit. Ich wusste, dass die Geschichte mit dem Aufbruch von Marijana aus Šibenik enden würde, und ich konnte mir ungefähr ausmalen, was bis dahin passiert. Und auch ästhetisch war der Film von Hana Jušić keine Offenbarung, die Farben wirkten ausgebleicht, der Erzählrhythmus stockte gelegentlich, vermutlich hätte man mit dem Produktionsbudget keine drei Minuten „Tatort“ drehen können. Trotzdem bin ich bis zum letzten Bild in „Hör auf, auf meinen Teller zu starren“ sitzengeblieben. Es ist nämlich nicht so, dass wir im Kino immer wieder neue Geschichten sehen wollen. Wir wollen nur die alten Geschichten auf immer neue Weise erzählt bekommen. Ich weiß jetzt, wie es in der Altstadt von Šibenik aussieht, ich habe den Ton im Ohr, in dem die Leute dort miteinander reden, und ich kenne den phantastischen Ausblick vom Hügel über der Stadt auf die Inseln vor der Küste. Diese Orte liegen jetzt in meiner Welt. Das alles könnte auch ein furchtbares Kuddelmuddel sein, ein formloses Einerlei. Aber hier hat es eine Form, weil es ein Narrativ besitzt. Eine Haltung, eine Perspektive. Ein Film, das ist zuallererst eine Idee, und dann kommen die Bilder, die uns zu ihr führen. Eins nach dem anderen.