Am 12. Mai 1987, einem Dienstag, hatte Nikita Michalkows Film „Oci Ciornie“ („Schwarze Augen“) nach einer Novelle von Tschechow auf dem Filmfestival in Cannes Premiere. Marcello Mastroianni, der später die Palme als bester Schauspieler bekam, wurde auf der Gala für seine Darstellung der Hauptrolle gefeiert. Schon bei der Pressevorführung am Vorabend war der Film mit Applaus verabschiedet worden. Ich weiß es, denn ich war dabei.
Gestern ist „Oci Ciornie“ in der Reihe „Venezia Classici“ auf dem Festival am Lido gezeigt worden – in einer frisch restaurierten Digitalkopie, mit zusätzlichen, damals geschnittenen Szenen, mit neuer Farbbestimmung und italienischen Untertiteln. Barbara und Chiara Mastroianni, die ältere und die jüngere Tochter Marcellos, waren bei der Vorführung anwesend. Das Publikum war bunt gemischt, nicht wenige Zuschauer dürften bei der Premiere des Films noch nicht geboren gewesen sein. Morgen läuft in derselben Reihe Veit Harlans „Opfergang“.
In dem Alter, in dem wir anfangen, das Kino zu entdecken, ist die Vorstellung, dass viele der Personen, die es uns zeigt, längst nicht mehr da sind, zugleich selbstverständlich und irreal. Sie gehören zur Vorzeit; ihre Welt war eine andere als unsere. Im Lauf der Jahre aber wird die Welt des Kinos zu unserer Welt, und so bekommt die Einsicht, dass sie von Abwesenden bevölkert ist, etwas Gespenstisches. Ich weiß, dass Marcello Mastroianni seit zwanzig Jahren tot ist, aber ich kann es nicht glauben, denn ich habe ihn ja gerade noch gesehen, wie er in „Schwarze Augen“ im weißen Anzug ins Moorbecken der Kurklinik steigt, um den Hut seiner Herzensdame herauszufischen. Auch mit dem Tod von Paul Newman oder Romy Schneider, von Fellini und Giulietta Masina habe ich mich nie ganz abgefunden; kämen sie mir auf der Straße entgegen, würde ich sie grüßen. Ich weiß, es ist eine Illusion, dass das Kino diese Menschen zu unseren Nachbarn macht. Und doch kommen sie uns nah.
Aber dann verschwinden sie, und auch die Filme, in denen sie auftreten oder die sie gedreht haben, würden verschwinden, wenn man sie nicht für viel Geld restaurierte wie jetzt „Oci Ciornie“. Und auch diese Form der Aufbewahrung kommt an ihre Grenzen: Die Bilder sterben, weil die Technik das, was in ihnen lebendig war, nicht mehr erfasst. Ich habe große Zweifel, dass die Körnung der analog projizierten Filme auf der Leinwand, die der Körnung unserer inneren Bilder bei geschlossenen Augen entspricht, im Digitalformat erhalten und weitergegeben werden kann. Noch mehr bezweifle ich, dass diese Art Unschärfe den Generationen, die nach uns kommen, noch irgend etwas bedeuten wird. Für uns war sie der Atem des Kinos.
Die ältesten Fresken auf den Wänden in San Marco sind tausend Jahre alt. So lange wird die Kultur des visuellen Erzählens, in der wir leben, nicht dauern. Das Kino, ihre allererste Form, ist schon jetzt dabei, in verschiedene hybride Spielarten seiner selbst zu zerfallen. Die als fortlaufende Geschichte erzählte Fernsehserie, ob in „Game of Thrones“ oder in Sorrentinos hier gezeigtem „Young Pope“, ist nur eine, die erfolgreichste von ihnen. In ein paar Jahren wird es wieder eine neue Variante geben.
Das einzige, was vom Kino immer bleiben wird, sind die Wünsche, die es beflügelt haben. Der Wunsch, sich zu verwandeln, Raum und Zeit zu durchqueren, allmächtig zu sein. Der Blick des Begehrens. Die Angstlust, die Schreckbilder gebiert. Die Sehnsucht, sich in einem anderen Subjekt zu spiegeln. Fellinis Träume. Bergmans Alpträume. Mastroiannis Gesicht, die Ikone des italienischen Mannes im zwanzigsten Jahrhundert. Das Kino wird als Nachbild in den Phantasien künftiger Epochen überleben. Und wir in ihm.
„Wenn ein Mann das Paradies im Traum durchquerte, und als Beweis für seine Reise bekäme er dort eine Blume, und beim Erwachen hielte er diese Blume in der Hand: Was würde er sagen? … Ich war dieser Mann.“ (Jean-Luc Godard, „Histoire(s) du Cinéma“)
Für Wolf Donner, 1939-1994
und Michael Althen, 1962-2011