Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Die Liste kennt den Sieger

Filmkritiker lieben Kritikerlisten. Sie nehmen gern daran teil, denn es zeigt ihnen, dass sie wichtig sind. Sie vergeben ein bis fünf Sternchen oder Punkte und manchmal auch ein paar halbe, ohne lang zu fragen, ob das der Wahrheitsfindung dient. Zugleich tun Filmkritiker gewohnheitsmäßig so, als seien ihnen die Meinungen anderer Kritiker gleichgültig. Mir zum Beispiel können Kritikerlisten absolut gestohlen bleiben. Natürlich stehe ich in Venedig auch auf einer Kritikerliste.

liste

Auf der Kritikerliste der Auslandspresse in der Festivalzeitschrift „Ciak“ liegt am letzten Wettbewerbstag immer noch der Eröffnungsfilm in Führung, Damien Chazelles „La La Land“. Aber auch Ozons „Frantz“ hat gute Chancen, und „Jackie“ und „Une vie“ ebenfalls. Dazu kommt noch „El Ciudadano Ilustre“, der Film des argentinischen Regieduos Cohn/Duprat, in dem ein Nobelpreisträger nach vierzig Jahren in seine Heimatstadt zurückkehrt, um ihr Ehrenbürger zu werden, und am Ende froh sein kann, mit dem Leben davongekommen zu sein.

Die italienischen Kritiker bevorzugen gleichfalls „La La Land“, aber direkt dahinter kommt „Jackie“, und dann, gleichauf mit „Ciudadano“, Kontschalowskis „Paradise“. Nun ja. Es gibt eine Schwäche in diesem Land für das richtig Finstere, gerade da, wo es mit saurem Kitsch (die Rückblenden!) angerührt ist. Auch „Une vie“ steht ganz gut da, dafür ist „Frantz“ abgehängt. Ozon ist für die Italiener wohl einfach zu verspielt.

Aber es gibt ja noch die Publikumsliste, an der die normalen Filmgucker teilnehmen. Und da – Überraschung! – hat Tom Fords „Nocturnal Animals“ die Nase vorn, zusammen mit „Ciudadano“, und direkt dahinter kommt Terrence Malicks „Voyage of Time“. „La La Land“ liegt nur im Mittelfeld, „Une vie“ auch. Die zweite Überraschung der Publikumsliste besteht darin, dass Wim Wenders’ „Schöne Tage von Aranjuez“ auf ihr nicht ganz so schlecht dastehen wie bei den Kritikern. Einer der Juroren, Furio Ganz, hat dem Film sogar vier Sterne („da non perdere – unbedingt ansehen“) gegeben. Ein Sohn von Bruno? Vielleicht einfach ein Fan.

Mit anderen Worten: Alles ist möglich. Es kann auch sein, dass ein ganz anderer Film den Goldenen Löwen gewinnt, Giuseppe Piccionis „Questi Giorni“ beispielsweise oder Denis Villeneuves „Arrival“. Mir ist vieles recht, ich bin nur entschieden gegen die Hackmetzgerfilme („Brimstone“ und „The Bad Batch“) und das Malick-Orgelwerk. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass „Une vie“, der kunstvollste, entschiedenste, ästhetisch konsequenteste Film des Wettbewerbs, nicht den Hauptpreis gewinnen wird. Solche Filme sind nichts für Festivaljuries, schon gar nicht für eine Jury, in der die Schauspielerinnen (Gemma Arterton, Nina Hoss, Chiara Mastroianni, Zhao Wei) gegenüber den Regisseuren (Sam Mendes, Joshua Oppenheimer, Lorenzo Vigas) in der Mehrheit sind. Ein bisschen Spaß muss sein, eine Dosis Rührung, ein wenig Flitter für die Augen. Also „La La Land“? Aber Hollywood bewirft man auch nicht gern mit Festivalpreisen. Ozon, Larrain, Piccioni, die Argentinier bleiben im Ring.

HANDOUT - Ryan Gosling als Sebastian und Emma Stone als Mia in einer undatierten Szene aus dem Film «La La Land». «La La Land» ist der Eröffnungsfilm des Internationalen Filmfestivals in Venedig. Foto: Dale Robinette/StudioCanal/dpa (zu dpa Themenpaket zum Start des Internationalen Filmfestivals Venedig vom 29.08.2016 - Wiederholung vom 24.08.2016 - ACHTUNG: Verwendung nur für redaktionelle Zwecke im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Film und nur bei Urheber-Nennung Foto: Dale Robinette/StudioCanal/dpa bis 14.04.2017) +++(c) dpa - Bildfunk+++ |© dpaRyan Gosling und Emma Stone im Eröffnungsfilm von Venedig: “La La Land”

Einmal war ich auch in einer Jury. Was über die Filme in den Zeitungen stand, war uns vollkommen egal. Die Kritikerlisten interessierten uns nicht. Eigentlich ließ sich jeder nur von seinen ganz persönlichen Neigungen und Vorurteilen leiten. Die amerikanische Schauspielerin wollte dem Regisseur B., der ihre Karriere beflügelt hatte, einen Freundschaftsdienst erweisen. Die iranische Filmemacherin interessierte sich vor allem für den iranischen Film, der marokkanische Schriftsteller für alle Filme, in denen Schriftsteller vorkamen. Der Italiener redete gern über die Filme seiner Landsleute. Der Jurypräsident wachte mit präsidialer Milde über uns. Zuletzt, als nur noch zwei Filme zur Auswahl standen, war es der große alte französische Regisseur, eine Legende der Nouvelle Vague, der den Ausschlag gab. „Wir müssen uns fragen“, erklärte er, „welcher Film diesen Preis am meisten braucht. Setzen wir das stärkere Zeichen, wenn wir den amerikanischen Film auszeichnen, oder tun wir es mit dem iranischen?“ Und so gewann der Iraner, eine Entscheidung, auf die ich bis heute stolz bin.

(Monsieur Chabrol, wenn Sie das da oben irgendwo lesen: Bitte verzeihen Sie mir, dass ich hier Dinge ausplaudere, die eigentlich unter uns hätten bleiben sollen. Ich weiß, dass Sie mich schon damals für ein wenig vorlaut gehalten haben, und ich fürchte, Sie hatten recht. Ich werde es wiedergutmachen, wenn wir uns wiedersehen.)