Der Goldene Löwe geht an keinen der Favoriten. Mit „Ang Babaeng Humayo” („The Woman Who Left“) von Lav Diaz hat die Jury von Venedig einen Film ausgezeichnet, der bei den wenigsten Kritikern auf der Rechnung stand, auch wenn ihm niemand jene Qualitäten abgesprochen hätte, die zu einem Festivalgewinner gehören. Aber für den britischen Regisseur Sam Mendes und seine acht Kojurorinnen stand offenbar die Frage im Vordergrund, welcher Wettbewerbsbeitrag am entschiedensten seinen eigenen künstlerischen Weg verfolgte, ohne sich um die üblichen Vorgaben und Konventionen des Kinos zu scheren. „The Woman Who Left“ dauert fast vier Stunden, ist in Schwarzweiß und im Fernsehformat 4:3 gedreht und erzählt eine Geschichte von Wut, Elend, Rache und Vergebung in einer weitgehend unbekannten Kleinstadt auf den Philippinen. So gesehen trifft der Preis den Richtigen.
Ausschnitte aus: “The Woman Who Left”
Auch mit den Schauspielerpreisen darf man zufrieden sein. Emma Stone in „La la Land“, der Argentinier Oscar Martínez in „El Ciudadano Ilustre“ und Paula Beer in „Frantz“: Sie alle zeigen mehr als Routine, mehr auch als das, was die Rolle von ihnen verlangt, sie geben dem Kino etwas von der Lebendigkeit zurück, ohne die es längst zur Animationsware oder zur Museumskunst verkommen wäre. Schön auch, dass der Preis für Paula Beer nach Marcello Mastroianni benannt ist, einem Schauspieler, dessen Lässigkeit und Selbstironie man auch zwanzig Jahre nach seinem Tod immer noch schmerzlich vermisst.
Der richtige Gewinner
Mit einiger Verwunderung liest man allerdings die Namen der Filme, denen die Jury ihre übrigen Auszeichnungen verliehen hat. Mit Tom Fords „Nocturnal Animals“ geht der Große Jurypreis an ein Werk, dem gerade das nicht gelingt, was es in den ersten Einstellungen verspricht: Kunstfertigkeit und Emotionalität, Verstörung und Distanz auf der Leinwand im Gleichgewicht zu halten. Und mit Ana Lily Amirpours „The Bad Batch“, Andrej Kontschalowskis „Paradise“ und Amat Escalantes „The Untamed“ hat die Jury drei Filme mit Spezial- und Regiepreisen bedacht, denen genau das fehlt, was große Inszenierungen ausmacht: der organische Zusammenhang zwischen dem, was erzählt, und der Art, wie es erzählt wird. Es gab andere Filme, etwa Stéphane Brizés Maupassant-Adaption „Une vie“ oder eben Ozons „Frantz“, in denen dieses Ineinander von Form und Gehalt gelungen war. Mendes und den Seinen, darunter die deutsche Schauspielerin Nina Hoss, haben sie offenbar nicht gefallen.
Venedig bleibt das Festival der sperrigen Gewinner. In den achtziger Jahren haben Hou Hsiao-Hsien und Jean-Luc Godard die Löwen geholt, in den Neunzigern Zhang Yimou und Tran Anh Hung, nach der Jahrtausendwende unter anderem Jafar Panahi und Jia Zhangke, und auch von den übrigen Preisträgern der letzten Jahrzehnte hat kaum ein Film (die zwei Ausnahmen sind Robert Altmans „Short Cuts“ und Ang Lees „Brokeback Mountain“) ein Millionenpublikum erreicht. Insofern ist das Festival am Lido am richtigen Ort: ganz nah bei den Massen, die dem Lockruf der Kultur in die venezianische Lagune gefolgt sind, und doch Welten von ihnen entfernt.