
Traditionell beginnt die Berlinale mit Stichworten zur geistigen Situation der Zeit. So war es auch am Eröffnungsabend, wobei die Moderatorin Anke Engelke (“dark and confusing”) und der Direktor Dieter Kosslick (“eine fordernde Zeit”) verschiedene Aspekte der gleichen Situation hervorhoben. Das eigentliche Stichwort aber war auch dieses Mal wieder “Politik”. Das A-Festival in der vormaligen Mauerstadt pocht gegenüber der glamouröseren Konkurrenz in Cannes auf den größeren Weltveränderungsanspruch. Eine Reihe von müden Trump-Witzen ließ zwar in erster Linie einen gewissen Populismus der Gag-Schreiber erkennen, man kann aber gar nicht anders, als die paar hundert Filme, zwischen denen wir in den kommenden Tagen die Wahl haben, auch als eine Art Weltkarte (mit Menschenrechtsindices, Individualitätsrekorden und kulturellen Zeitzonen) zu nehmen – genauer gesagt, die Karte einer Welt von gestern, denn Paul Verhoeven, der Präsident der diesjährigen Jury, wies auf dem roten Teppich schon einmal darauf hin, dass Filme immer ein wenig später kommen als die Gegenwart. Wobei er natürlich darauf pochen kann, dass er den besten Film über ein faschistisches Amerika schon vor einiger Zeit gemacht hat. Er heißt “Starship Troopers”, und sieht aus, als wäre ein Model Contest in einen galaktischen Superameisenhaufen geraten. Faschismus, das ist eine der Lehren aus diesem ironischen Meisterwerk, ist ein höchst dehnbarer Begriff.
Verhoeven sitzt in diesem Jahr einer Jury vor, der zum Beispiel auch der Universalkünstler Olafur Eliasson angehört. Die Diskussionen allein dieser beiden Herren würde man gern protokolliert lesen, sie unterliegen aber natürlich der Geheimhaltung. Verhoeven und Eliasson gehören zu den Teilnehmern an der Berlinale, die das Festival vor allem in Gestalt des Wettbewerbs mitbekommen werden. Damit haben sie schon gut zu tun, das Publikum hat demgegenüber den Vorteil, sich auch unter den restlichen 380 Filmen umsehen zu können. Zwei Beispiele aus dem Freitagprogramm können ein bisschen verdeutlichen, was eine “politische” Berlinale konkret sein kann.
Beide gehören zur Sektion Panorama Dokumente. “Belinda” erzählt von Menschen im Zentrum Europas, die nicht so richtig dazugehören. “Investigating Paradise” beschäftigt sich mit den Vorstellungen vom Paradies im Islam.
Die beiden Schwestern Sabrina und Belinda, die hier im Bild zu sehen sind, leben in der Gegend um Mulhouse in Frankreich, nicht weit von der Grenze zu Deutschland. Sie gehören einer Minderheit an, von der nicht so leicht zu sagen ist, ob es eher eine ethnische oder eine soziale ist: sie sind Jenische. Zur Geschichte dieser Gruppe gehört, dass sie im Dritten Reich verfolgt wurden. Marie Dumora hat mit “Belinda” ein Porträt vor allem einer jungen Frau geschaffen, die über die Dauer der 107 Minuten des Films erwachsen wird, und dabei auch in eine Identität hineinwächst, die ihr Halt gibt, die sie aber auch einschränkt.
Geburt soll in modernen Gesellschaften nicht Schicksal sein, das Leben soll Möglichkeiten bieten, Freiheitsräume öffnen. “Belinda” ist eine bewegende Reflexion auf diese Fragen, und dabei zugleich auch ein kleiner Versuch über die “politische” Struktur des Kinos selbst, und zwar am einem seiner stärksten (und wundesten) Punkte: an der Möglichkeit zur Identifikation. Dass man jemandem wie Belinda so nahe kommen kann, das ist ein Effekt des Kinos, bei dem alle die klassischen Faktoren (die Intimität des dunklen Saals, das riesige Bild, die Intimität der Großaufnahmen) eine Rolle spielen. Es ist schwer, wenn nicht unmöglich, gegenüber einen Film wie “Belinda” rechthaberisch zu sein. Und damit besetzt er genau eine Bruchlinie, entlang derer derzeit das Politische sich neu formiert: zwischen Menschen, die ihre Existenz als vielfach bedingt erkennen, und dies auch aushalten können, und anderen, die sich selbst für das Maß der Dinge nehmen. Weil “Belinda” diesen Unterschied manchmal durchaus schmerzhaft nahebringt, ist er als Eröffnungsfilm der Panorama Dokumente exzellent gewählt.
Gegenüber dem Islam fühlen sich viele Menschen schon allein deswegen im Recht, weil sich immer wieder Terroristen auf ihn berufen. Aber auch, weil zu seinen vielen Gesichtern oft das von verhüllten Frauen gehört. Dass es “den Islam” als solchen nicht gibt, ist dabei ein schwacher Einwand, der aber sofort an Gewicht gewinnt, wenn man von irgendwo Näheres erfährt. Merzak Allouaches “Investigating Paradise” (“Tahqiq fel djenna”) zeigt eine algerische Journalistin namens Nedjma, die sich mit den Paradiesvorstellungen aus dem Koran beschäftigt. Sie spricht junge Männer auf der Straße an, und fragt sie, wie sie sich das Jenseits vorstellen. Dabei kommt sie um die “72 Houris” nicht herum, denn das ist nun einmal das Motiv, das besonders populär geworden ist.
“Investigating Paradise” wäre an vielen Stellen beinahe komisch, ginge es nicht um eine so wesentliche Sache des muslimischen Motivationshorizonts. Wir erfahren von Merzak Allouache eine Menge darüber, wie Wissen und Lehrmeinungen in Algerien tradiert werden. Intellektuelle äußern sich ebenso wie einfache Leute und religiöse Experten. Besonders spannend wird der Film, als Nedjma sich auf den langen Weg in die Stadt Timiaouine macht, um dort einen bestimmten Prediger zu sprechen. Plötzlich sind wir an der Grenze zu Mali, und damit in einer Welt, in der Deutschland sich gerade geopolitisch zu engagieren beginnt. Das aber ist schon wieder ein ganz anderer Begriff von Politik, und zwar einer, den man mit Präfixen wie Real- oder Interessens- oder Sicherheits- von dem Politikbegriff eines Filmfestivals abgrenzt, das sich am ersten Abend vor allem darin gefiel, einen amerikanischen Präsidenten zu verhöhnen, der zweifellos einen sehr naiven Begriff von “executive power” hat.
Aber haben wir das nicht alle? Genau darüber klärt uns ein Festival wie die Berlinale auf. Und damit ist es wirklich politisch.