Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Endlich fernsehen!

Paradox ist es schon, von einer Hommage ans Kino, wie sie der im vergangenen Juli verstorbene Abbas Kiarostami mit seinem nachgelassenen meditativen Werk „24 Frames“ geschaffen hat, loszurasen, um noch rechtzeitig zur Binge-Vorstellung von „Top of Lake: China Girl“ zu kommen, der zweiten Staffel der Fernsehserie von Jane Campion.

© AFP Photo / Loic VenanceJane Campion (2. v.l.) stellt mit den Schauspielerinnen Gwendoline Christie (l.), Elisabeth Moss und Nicole Kidman (r.) „Top of the Lake: China Girl“ in Cannes vor.

Leider hat es nicht geklappt. Die Leute standen offenbar wieder zwei Stunden vorher an, und der Saal war bis auf den letzten Platz besetzt, so hieß es, als ich angerast kam. Das war ziemlich genau der Zeitpunkt, zu dem auch Jane Campion und ihr Team zum Saal geführt wurden, darunter Elisabeth Moss, die wie in der ersten Staffel die Detektivin Robin spielt, und Gwendoline Christie, neben der wir alle aussahen wie niedere Wesen. Vor mir, ebenfalls abgewiesen, stand ein australischer Kollege. Mir war etwas peinlich, dass er rief: „Jane! I came as promised, but I can`t get in!“ Ich hielt es für einen frechen Trick, man kann hier einiges in dieser Hinsicht erleben. Doch Jane Campion drehte sich um, strahlte den Kollegen an, kam zu ihm, beugte sich über die Absperrung und gab ihm einen Kuss. Natürlich kam er daraufhin dann doch noch in den Saal und musste sicher nicht stehen. Ich hingegen musste mich mit den ersten beiden (von sechs) Kapiteln der Serie begnügen, die in einer Pressevorführung kurz darauf gezeigt wurden.

In einem riesigen Saal mit gekrümmter Leinwand saß ich eine halbe Stunde später also und sah fern. In Berlin habe ich das schon häufiger gemacht, unter anderem mit der ersten „Top of the Lake“-Staffel, die vor einigen Jahren während der Berlinale in der Akademie der Künste gezeigt wurde. Damals fand ich es nicht merkwürdig. Heute aber schon. Wahrscheinlich, weil es die erste Serie ist, die überhaupt je in Cannes gezeigt wurde. Wahrscheinlich, weil in diesem Jahr der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit so überwältigend ist. Vielleicht, weil ich merke, dass mich die Filme in diesem Jahr nicht satt machen.

Zwei Folgen „Top of the Lake“ übrigens auch nicht. In den ersten zwei Stunden werden erstmal die Fährten in die verschiedenen sich verwebenden Geschichten hinein ausgelegt. Die Geschichte spielt in Sydney diesmal, nicht Neuseeland wie die erste. Es geht um einen Mord im asiatischen Sexgewerbe, einem Sklavenmarkt, dem Jane Campion keinerlei exotischen Schauwerte abgewinnen mag. Die Frauen in den Puffs sind Sklavinnen, die hart arbeiten müssen, um sich freizukaufen, und sie nutzen ihren Körper dazu in all seinen Funktionen aus. Eines der Mädchen wird in einem Koffer an den Bondi Beach gespült. Fortsetzung folgt.

Der Koffer, ein Rollkoffer in Himmelblau, wird am Anfang von einem Mann und einer Frau in die Bucht gekippt. Langsam sinkt er auf den Grund. Unterwegs wird er beschädigt, Wasser dringt in ihn ein, und langsam treibt er wieder an die Oberfläche. Mit ganz ähnlichen Bildern hat Jane Campion am Ende von „The Piano“ gearbeitet, das ist jener Film, der hier 1993, zusammen mit „Lebewohl, meine Konkubine“ von Chen Kaige, die Goldene Palme gewonnen hat. Während ich zusah, wie der Koffer Blasen durchs Wasser schickte und erst nach unten, dann nach oben trieb, dachte ich seit langem zum ersten Mal wieder an das „Piano“ und den Eindruck, den es damals auf mich machte, bei meinem ersten Festival in Cannes. Wie überwältigend dieser Film auf uns alle wirkte, weil er uns etwas zeigte, das wir so noch nie gesehen hatten: den Widerstand einer störrischen Frau und eine sinnliche Liebe zu einem Ureinwohner, dem sie Klavierspielen beibringt. Ob Jane Campion, die kurz zuvor noch bei den Fotos fürs Familienalbum des Festivals dabei gewesen war, heute auch daran gedacht hat? An die Vorstellung damals, die Japser, den frenetischen Applaus?

Ich wüsste sehr gern, wie es mit dem „China Girl“ weitergeht. Sechs Kapitel hätte ich trotz allem in diesem Tag untergebracht. Zwei sind nicht genug.