
Wie nennt man das, wenn im Kino der Naturalismus oder Realismus einer Szene, wie sie auch im wirklichen Leben vorkommen könnte, von der darauffolgenden Szene kassiert und verbrannt wird, die wie eine Wunderkerze mit Magie sprüht, sich dann aber selbst wieder zusammenfaltet und erneut dem Wirklichkeitssinn Platz macht?
In „Fisher King“ (1991) von Terry Gilliam gibt es diesen einen, unbezahlbaren Augenblick, an dem mitten während des Berufs- und Pendlertrubels am Bahnhof plötzlich alle anfangen, miteinander zu tanzen, weil Robin Williams, mitten unter ihnen, die Welt für ein Wunder hält, seiner Geliebten wegen. So etwas ist gleichsam die Mini-Version des Zentraltricks in Victor Flemings „Wizard of Oz“ (1939), wo der Alltag in Schwarzweiß gefilmt ist und die Traumwelt in Farbe – ein Trick, den Guillermo del Toro in „The Shape of Water“, seinem mehr als ordentlichen Beitrag zum Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig 2017, mit einer wohlüberlegten Geste genau umdreht: Das triste Leben ist bunt, die Vision von der Liebe als Musical dagegen so Schwarzweiß wie die schönen alten Filme, aus denen sie kommt.
Noch eigenwilliger aber ist der Gebrauch, den Paul Schrader in seinem harten, strengen und schroffen neuen Drama „First Reformed“, das ebenfalls zu den Filmen gehört, die diesmal ums Lob der Jury von Venedig konkurrieren, von diesem Instrument des Wechsels zwischen einerseits realistisch-naturalistischer und andererseits phantastisch-spekulativer Inszenierungsart macht. „First Reformed“ handelt von einem Pfarrer, der in einer Kirche seinen Dienst am Glauben versieht, die meist nur noch von etwa einem Dutzend Menschen zur Messe besucht wird und ansonsten ein Museum, nämlich ein Baudenkmal der Geschichte der Vereinigten Staaten, ist.
Der Film weicht seinem von persönlichen Schicksalsschlägen fast schon ruinierten Helden kaum je von der Seite, Ethan Hawke würde so luftgetrocknet und leidgegerbt, wie er hier aussieht, nicht schlecht in einen Film über Sinnsuche und Existenzangst von Tarkowskij oder Bergman passen, und Schrader schafft es, dieses Gesicht, dieses Sich-durch-die-Tage-Schleppen des Kranken, Verlassenen, Zweifelnden so mitteilsam und doch verschlossen aussehen zu lassen wie den Baum mit den verwirrenden Ästen in seinem „Cat People“-Remake von 1982, aber das alles wäre, für sich genommen, nur eine Art anstrengendes spirituelles Exerzitium, wie es auch der Pfarrer selbst sich auferlegt, indem er ein Tagebuch schreibt, das uns Hawke aus dem Off vorliest, solange das Ganze währt.
Das Ganze besteht in einem fürs übliche Geschichtenkino sehr unüblichem Ausmaß aus Gesprächen, fast Theaterdialogen, etwa aus dem Versuch, einem werdenden Vater von seiner Depression wegen des ökologischen Weltuntergangs zu befreien, oder Rechtfertigungen gegenüber den Vorgesetzten in der Kirche. Nichts gelingt diesem Pfarrer, der werdende Vater bringt sich sogar um, die schwangere Witwe sucht bei dem Pfarrer Trost – und da kommt der Bruch im Normalwahrnehmungsmuster, der Eingriff ins Tatsächliche: Die Frau (Amanda Seyfried, wiedermal die menschgewordene Hypnosesitzung, absolut bestechend) zeigt dem Pfarrer eine Atem- und Körperkontaktübung, und auf einmal heben sie aus der Bodenlage ab, sind von Sternen umgeben, fliegen übers Meer und die Berge, aber die Idylle bleibt nicht bei sich, denn dann kommen die Schandpanoramen, die versauten Ströme, die verheerte Erde, Müll, Schrott, Gift – und dass der Film danach auf ein schlimmes Ende zusteuert, dann doch nicht, dann auf ein noch schlimmeres, dann auch das nicht, dann auf das allerschlimmste, aber da plötzlich abbricht – das ist nicht einfach Künstlerkalkül von Schrader, der es damit etwa auf maximale Verunsicherung der Seherwartung abgesehen hat, sondern das ist die Kapitulation eines Films vor diesem Moment, den man nicht vernünftig erklären kann, vor diesem Bruch, von dem der Film einerseits lebt und an dem er andererseits zerbricht. Wenn man sowas Scheitern nennen darf, dann ist Scheitern interessanter, als Leute glauben, die nie bei was Wichtigem gescheitert sind.