
An diesem Donnerstag um Halbneun wurde es auch für das ausgeschlafenste Vokabelheft im Pressegehirn heftig: In Guillermo del Toros neuem Zwei-Stunden-Filmtraum „The Shape of Water“ fällt sich die Welt, weil das Ding mitten im Kalten Krieg spielt, teils englisch, teils russisch ins Wort, und einiges wird offenbar, so weiß es das Programm, auch noch in Gebärdensprache mitgeteilt, dafür aber immer mit Untertiteln, englischen natürlich, italienischen eh.
Wer damals noch in Babel war, bevor der liebe Gott den Turm umgeschmissen hat, und sich also erinnert, wie das war, als alle Menschen erst in einer einzigen Sprache redeten, der universalen, in der man, einer gewissen Tradition der jüdischen Mystik zufolge, sogar den Engeln Befehle geben kann, wird sich spätestens am Abend mit Wehmut an die schönen Gespräche vor dem Wirrwarr erinnern, denn um 19 Uhr 30 nimmt der chinesische Kunstmessias Ai Weiwei den Mund bis an die Fassungsgrenze voll und lässt seinen Film „Human Flow“ unter anderem auf Arabisch, Persisch ( = Farsi), Französisch, Deutsch, Ungarisch, Spanisch und wer weiß was sonst noch die Mitteilung machen, dass die breite, fließende, machtvolle Bewegung über den Globus, die im Moment Leute aus ärmeren und gefährlicheren Regionen in reichere und sorgenärmere führt, nur von Leuten als „Flut“ beschrieben werden kann, die sich abgewöhnt haben, Menschen als Menschen zu betrachten.
Der Ansatz passt bestens auf ein Festival, bei dem man in der Schlange oder beim Knäckebrot-Einkaufen im Supermarkt zwanzig Minuten weit zu Fuß vom Festivalgelände sogar noch mehr Sprachen hören kann als auf den Tonspuren der Filme, und zwar von den allerverschiedensten Personen, bei denen man nicht immer gleich auf den ersten Blick erkennt, welche Sprache sie wohl reden – am Mittwochmorgen, vor dem Start von Alexander Paynes sehr nettem Science-Fiction-Tragikomikon „Downsizing“, drehte ich mich im Vorführsaal reflexhaft um, als jemand sowas Ähnliches wie „Kyo wa ii tenki desu ne“ sagte, weil ich dachte, Oh, die Japaner, wie nett, auch schon da – und dann saß da mehrere Reihen tief niemand, den mein blöder racial-profiling-Affenkopf als asiatisch hätte identifizieren können.
Auf Sprache überhaupt nicht angewiesen sind leider die sehr vielen Polizistinnen und Polizisten rund um die Festivalanlagen; ich glaube, es waren noch nie so viele, aber man weiß auch ohne Worte unglücklicherweise immer, wann man ihnen einen Blick auf den Ausweis-Umhänger oder in die mitgebrachte Tasche gestatten sollte, und man muss auch niemanden fragen, wozu die vielen Sperren, darunter sehr massive, die kein Auto umfahren kann, eigentlich da sind.

Der deprimierende Einfall: „Das Gegenteil von Sprache ist Gewalt, die versteht man sofort“ will mir schon den Tag eintrüben, da sehe ich plötzlich ein vertrautes Gesicht aus Deutschland, in der Menge auf der Straße von der Anlegestelle der Wassertaxis zum Badestrand, eine alte Frau, mit zwei Kindern, die beide Eis essen, und ich muss überlegen, woher kennst du die, ist das eine Journalistin, Kollegin, hat die was mit Film zu tun? Falsch, stellt sich raus: Das ist eine Buchhändlerin, in deren Buchhandlung, die sie im Süddeutschen betreibt, in einer mittelgroßen Kreisstadt, ich seit Jahren nicht war.
Wir reden kurz, ich frage, ob sie den Laden noch hat, sie hat ihn noch, ich frage, ob das nicht schwierig ist, wegen Amazon und so, sie sagt: „Nein, wir haben ja nicht nur Bücher, wir haben Bücher in mehreren Sprachen, und wegen Dreiländereck kommen dann Franzosen auch und Schweizer, Stammkunden, ist ja bloß eine halbe Stunde. Wir sind international, gut, das ist Amazon auch, aber bei uns triffst du halt Leute, verschiedene, interessante Leute, also, wir sind nicht bloß international, wir sind“ verbessert sie sich und findet das gute, alte, deutsche, politische Wort, das ich hier schon die ganze Zeit suche: „internationalistisch.“