
Preise wird auch auf diesem Festival der beste Film kriegen, die beste Regie, die beste Kamera, die beste Schauspielerei und so weiter; belohnt wird dabei immer was Großes, Ganzes, eine Langstrecke – für die schönsten Einzelszenen gibt’s dagegen vorerst nichts, dabei können die doch nicht nur in guten, sondern auch in schlechten und sogar in mittelmäßigen Filmen vorkommen; zwei davon sollen wenigstens hier gelobt sein, schon weil sich mit ihnen eine eben aufgestellte Behauptung belegen lässt, denn die eine ereignet sich in einem bestenfalls durchwachsenen, die andere in einem außergewöhnlich reichen Film.
Der durchwachsene ist „Una Famiglia“, ein Heimspiel von Sebastiano Riso, das von Leihmutterschaft, gewalttätigen Hörigkeitsbeziehungen und allgemeiner menschlicher Verworfenheit erzählt und vorab damit angibt, auf mehreren wahren Geschichten zu beruhen, also nicht etwa nur auf einer, das wäre ja nicht niederschmetternd genug, nein, mehrere solcher Scheußlichkeiten um Handel mit Neugeborenen und korrupte Ärzte müssen es schon sein – aber von dieser törichten Authentizitätsgebärde abgesehen ist das Ding ein handwerklich sehr ordentliches Sozialrührstück auf normalen Fernsehspielniveau, bis auf diesen einen Moment – ein böser Mann tut einer armen Frau etwas an, wir sehen es durchs Fenster eines Mietshauses, dann kann die Kamera es nicht mehr ertragen, senkt sozusagen den Blick, fährt an der Hausfassade runter und erlaubt sich eine lange Fahrt durch den Hof, danach auf die Straße, weiter, weiter, bis der ganze Kreis ihrer Reichweite durchmessen ist, und da kommt der Täter aus dem Haus, und die Kamera steigt wieder nach oben, schaut erneut durchs Fenster, da sitzt die Frau, sie lebt noch, sie weint – und die Welt, in die wir einen Blick tun durften, hat nichts mitgekriegt, es ist ihr egal, wie so vieles dieser Art, das in unseren Städten ständig passiert: Diese ruhige Zusammenschau der einzelnen Grausamkeit mit dem gesellschaftlichen Drumherum muss einem erst mal einfallen, das ist eine ganz ungezwungene, kühle Totalität der Bestandsaufnahme, und wenn der ganze Film so wäre wie dieser Moment, wär’s ein Kunstwerk ersten Grades und wohl das beste auf dem Festival.
So ein Kunstwerk und zumindest eins der besten, wenn nicht das beste auf dem Festival, hat Martin McDonagh im Rennen, den Das-ist-eigentlich-mehr-und-was-ganz-anderes-als-ein-Krimi „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“, aus dem die andere Spitzeneinzelheit stammt, um die’s hier geht. Der Film beginnt als Duell zweier Spitzenkräfte der Weltkinoschauspielerei, Frances McDormand und Woody Harrelson – sie ist eine Mutter, deren Teenagertochter vergewaltigt und ermordet wurde, er der oberste Gesetzeshüter in dem amerikanischen Kaff, in dem das passiert ist, und die Filmerzählung setzt ein, als sie ihn mit drei Anzeigetafeln am Rand einer kaum befahrenen Landstraße anklagt, er habe seine Polizeikräfte nicht ausreichend zur Ermittlung des Mörders und Vergewaltigers angetrieben. Die Szene ist ein Hausbesuch des beschuldigten Polizisten bei der Anklägerin. Sie sitzt auf einer Kinderschaukel, er versucht ihr zu erklären, die genetischen Spuren am Tatort hätten nirgendwohin geführt, da das entsprechende Erbgutprofil in keiner Datenbank verzeichnet sei, es habe auch keine Augenzeugen gegeben, mehr könne er nicht tun. Sie schlägt in bitterem Ton vor, alle Männer, die älter als acht Jahre sind, eine Probe abgeben zu lassen und die mit den Spuren zu vergleichen – alle Männer der Gegend, des Staates, des Landes, auf der Welt. Er gibt zu bedenken, da würden eventuell Bürgerrechte verletzt – man sieht, beide haben nicht ganz Unrecht, beide können nicht aus ihrer Haut, respektieren einander, sind aber gezwungen, Gegenspieler zu werden.
Dann aber bittet der harte, erkennbar anständige Mann sie plötzlich um Rücksicht – er sei todkrank, habe nur noch wenige Monate zu leben. Sie sagt, das wisse sie doch schon, das sei ja der Grund, warum sie die Tafeln jetzt habe aufstellen lassen – „wenn du verreckt bist, bringen sie ja nichts mehr.“ Er zeigt nicht, wie sehr ihn das trifft, sondern geht einfach – und plötzlich schlägt sie, die bis dahin vor allem einen Begriff davon vermittelt hat, wie Clint Eastwood in seinen besten Westernrollen ausgesehen hätte, wäre er eine Frau gewesen, die Augen nieder, und man versteht: Sie schämt sich, so sehr im Recht zu sein. Ein ganz kurzer, ein sehr komplizierter Moment – Rechthaberinnenscham, das ist kein simples Gefühl, und wann hat man es zuvor so minimalistisch gespielt gesehen, als Resultat einer Begegnung solcher Talente? Es ist die Szene, ab der man weiß, auf welchem Niveau dieser Film überhaupt spielt, und er hält es, ja, bricht sogar aus dem Duellmodus aus, öffnet sein Szenario, lässt noch weitere, noch interessantere Figuren zu – ein Festivalhöhepunkt, zwei begeisternde Stunden lang.