Absage, Aus für das konventionelle Cannes, Schaffung eines jungen Konkurrenzunternehmens: Das war vor fünfzig Jahren, im Frühsommer 1968. Das konventionelle Cannes hat sich davon erholt, wie wir wissen, und hat sich das Konkurrenzunternehmen zwar nicht untertan gemacht, aber ein Gegenfestival ist die Quinzaine des Réalisateurs auch längst nicht mehr. Immerhin hat sie sich Spielstätten außerhalb des Festivalpalasts erhalten, und das vielfach gestaffelte Diskriminierungssystem der Presseakkreditierungen gilt dort nicht. Jeder steht an, so lange er muss.
Es wird um das Jubiläum kein Aufhebens gemacht. Im offiziellen Festival nicht, in der Quinzaine abgesehen von einem winzigen Vorspann auch nicht. Und doch ist immer noch ein Unterschied zwischen den beiden spürbar. Das Quinzaine-Publikum ist cinephil, es gibt keinen Dresscode zu beachten, und unter die Professionellen mischen sich die Fans.

Gaspar Noe, der aus Argentinien stammt und 53 ist, hat eine Menge davon. Und sie alle wollten in das unterirdisch gelegene Theater, das die Hauptabspielstelle für die Quinzaine ist. Es hatte geregnet, ein scharfer Wind pfiff, aber niemand scherte aus der endlos wirkenden Schlange aus, trotz sehr langer Wartezeit. „Climax“ heißt das Werk, das alle sehen wollten, und wer mit Noes Filmen vertraut ist, die delirös, drogengesättigt, kreischend laut, sexuell explizit und gewalttätig sind und berstend vor Energie, konnte das entweder als eine Verheißung oder eine Warnung nehmen.

Ich dachte, Verheißung. Denn Noe hat sich eine Truppe der besten Tänzer zusammengesucht, die zur selben Zeit für die Dreharbeiten von zwei Wochen in Paris sein konnten, und Gerüchte sagten, sie wären die besten. Jedenfalls wurden sie, als sie den Saal betraten, mit Pfiffen, Rufen, Schreien begrüßt, wie man sie im Palast ein paar hundert Meter weiter niemals hört. Der Regisseur Noe auch. Schließlich standen sie alle auf der Bühne, die Darsteller in phantastischen Outfits, und als alles vorbei war, kamen sie wieder, die Musik setzte ein und sie begannen wieder zu tanzen, wie in dem Film, der gerade zu Ende war.

Wie am Anfang des Films. Eine unglaubliche knappe Stunde lang tanzen sie sich die Seele aus dem Leib, einzeln, gemeinsam, mit offenbar knorpellosen Schulter- und Ellbogengelenken, und kraftvollen akrobatischen Einlagen zu wummernder Musik. Dann läuft die Sache aus dem Ruder. Der Film. Die Probenparty, die er zeigt. Und es wird, zahmer zwar als im letzten Film, dafür aber mit Kind, wieder ein echter Noe daraus. Extrem in jeder Hinsicht. Körper an ihren Grenzen, Bewusstsein auf der Achterbahn. Die Räume öffnen sich in ein Labyrinth aus schmalen Gängen. Ein Horrortrip. Das Publikum juchzte.
Erstaunlich aber vor allem: dass das Ganze nicht entfernt so schockierend war wie vor einigen Jahren noch „Into the Void“, aus dem vier Fünftel des Publikums verschwunden waren, als der Film sich zum Ende neigte. Heute wollten nicht nur alle hin, sondern blieben auch bis zum Schluss. Und viele tanzten dann auch noch mit den ungewöhnlichen Tänzern von überall her.