Bei jedem Festival gibt es den Augenblick, an dem man verlorengeht zwischen den Filmen, den Phantasien der anderen, in denen man diese Tage verbringt. Schlecht, wenn das am Tag passiert, an dem der Film von Lars von Trier läuft. Aber auch sonst ist alles dabei in diesem Jahr – Träume, Fieberträume, Albträume, Tagträume, Drogendelirien, Stürze in den Kaninchenbau. Wenn man verlorengeht, an der Schwelle zwischen Film 29 und 30 ungefähr, vermischen sich die Geschichten, in denen sie geträumt oder deliriert werden, treffen auf Übermüdung und Übersättigung. Das Genitalmonster aus Argentinien, mehrgeschlechtlich, kannibalisch, begegnet plötzlich dem chinesischen Liebenden, dessen Tischtennisschläger ihn fliegen lässt, wenn er ihn dreht, sie treffen auf die Nackte mit dem Katzenkopf im Osten von Los Angeles und auf den Mann, der sich in Brand setzt, weil er eine Fabrikschließung nicht verhindern konnte, fliegen gemeinsam über die Landschaft, in der Jack sein Haus baut und über die gefrorenen Kinderleichen hinweg mitten hinein in eine johlende Menge von Klanmitgliedern, die „Birth of a Nation“ schauen und dabei Popcorn essen. Alles da gewesen, nicht in dieser Reihenfolge und in verschiedenen Filmen, aber als Zusammenschnitt plötzlich so gegenwärtig wie der Horror auf der Leinwand, die zuckenden Leiber bei Gaspar Noe, die abgeschabte Leiche bei von Trier, das bezahnte Riesenvaginamonster bei Alexandro Fadel und die Katzenfrau im Hundemörderfilm von David Robert Michel. Glücklicherweise geht der Augenblick des Mischmaschs vorbei und die Erinnerung klart auf. Und sieht 3D und fällt zurück in den Kaninchenbau.

„Long Days Journey into Night“ – das ist der englische Titel des chinesischen Films, der im Original nach einer Geschichte von Roberto Bolagno heißt. Mal sehen, was ein deutscher Verleih sich einfallen lässt, sollte er in unsere Kinos kommen, was unbedingt zu hoffen ist. Bi Gan, der Regisseur, war wortkarg bei der Premiere. Er wollte wohl nicht länger warten, um zu sehen, wie das Publikum reagiert. Wir hatten 3D-Brillen bekommen, wurden aber zu Beginn des Films angewiesen, sie erst aufzusetzen, wenn auch die Hauptfigur dies tue. Das war etwa in der Mitte des Films, und erst dort stand dann in hellblauen Buchstaben mitten im Raum dieser Titel „ Long Days Journey“– und eine fünfzigminütige 3D-Fahrt durch ein Labyrinth begann, in dem unserem Helden seltsame Figuren begegnen, ein Tischtennismatch auf einer Tür mit einem Lageplan darauf über sein weiteres Schicksal entscheidet, und eine Frau ihm begegnet, die nicht die ist, nach der er sucht.
Es war einer der poetischsten, langsamsten Filme des Jahrgangs. Er rief in seiner unendlichen Melancholie „In the Mood for Love“ von Wong Kar-wei in Erinnerung (der gleich zu Beginn des Jahrhunderts hier alle verzauberte, aber nicht die Golden Palme gewann), ohne epigonal zu wirken. Der Film von Bi Gan hätte dem Wettbewerb gutgetan (er lief in Un certain Regard). Dorthin wurde stattdessen ein ganz anderer Kaninchenbau-Film eingeladen, nämlich David Robert Mitchells „Under the Silver Lake“, der das meiste David Lynch verdankt – und den Rest allen anderen (Chandler und Altman und Pynchon usw.), die Los Angeles zu dem gemacht haben, was wir imaginieren, wenn wir den Namen dieser Stadt hören.