
Was ist das eigentlich für ein Land, das dieses Festival ausrichtet? Das so viel Stolz in seine Filme, seine Kinokultur legt? Was hat sich geändert seit 1968, als es auch hier beim Festival krachte und die Sache abgeblasen wurde? Lässt sich zwischen dem, was hier in diesem Jahr angesichts der offensichtlichen Krise des Festivals schmerzhaft diskutiert wird, und dem Rest des Landes überhaupt eine Verbindung herstellen?
Das sind Fragen, mit denen ich mich in den Film „La Traversée“ von Romain Goupil (außer Konkurrenz gezeigt) aufmachte, der sich dann als etwas ganz anderes herausstellte. Es geht nicht ums Kino, nicht um Cannes, nicht einmal um 1968, wie der Pressetext glauben machte. Dafür sah ich ein Roadmovie mit Dany Cohn-Bendit, der mit Goupil quer durch die Republik fährt und mit Leuten spricht. Mit Eisengießern und Milchbauern, mit Eisherstellern und Krankenpflegerinnen, mit Fischern und Fabrikbesitzern, mit Polizistinnen und Flüchtlingen und denen, die ihnen helfen. „Mein Gott, sie laufen. Sie laufen ununterbrochen“, sagt ein Mann und die Tränen kullern ihm über die Wangen, als hätte er gehört, was die Frau nebenan gerade sagte, nämlich dass sie wisse, sie habe keine Lösung für das Problem der Völkerwanderung, könne aber bei denen, die über die Berge in ihr Dorf kommen, für einen Augenblick der Ruhe sorgen. Bevor sie weiterlaufen.
Für die gut zwei Stunden, die dieser Film dauerte, konnte man vergessen, wo man war. Und sah Menschen zu, die ganz woanders sich ihre Gedanken machen, und Cohn-Bendit mit seiner neugierigen, nie hochnäsigen Interviewtechnik bringt sie dazu, sie uns mitzuteilen.
Natürlich sind die zwei älteren Herren, Helden ihrer Tage, eitel. Natürlich wissen sie das selber und machen sich darüber lustig. Entscheidend ist ihr genuines Interesse an den Menschen in diesem Land, daran, warum etwa die Hälfte den Staat immer vor die Freiheit setzen würde, wie es am Anfang heißt, den Staat, der sie im Zweifelsfall weder schützt noch unterstützt. Auch dazu gab es übrigens einen Film. „En guerre“ hieß er, gedreht von Stéphane Brizé, ein solides Stück realistisches Kino um einen Streik, der nicht erfolgreich endet.
Zurück zur Fahrt durch Frankreich: Cannes fühlte sich danach noch unwirklicher an als sowieso. Der rote Teppich noch mehr bourgeois. Viele Filme noch weiter an den wesentlichen Fragen vorbei. Auf einige fanden Goupil und Cohn-Bendit auch keine Antwort. Warum wird einer, der früher Maoist war, Anhänger von Le Pen? Er konnte es selbst nicht sagen.
Aus der Welt von Cannes kam dann die Nachricht, der Preis der Quinzaine, des Festivalsarms, der sich der Revolte von 1968 verdankt, sei an Gapsar Noe für “Climax” gegangen. Wenn Sie vergessen haben, was das war, schauen Sie noch einmal in die “Aufforderung zum Tanz” vom 13. Mai.
Bald ist hier Schluss. Noch vier Filme. Und dann die Palmen.