Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Ahnungen, Warnungen und Wahn

“The Mountain”-Regisseur Rick Alverson mit den Schauspielern Hannah Gross und Tye Sheridan auf dem Roten Teppich in Venedig

Schon beim Verlassen der Fähre, gerade am Lido angekommen, warnt die Allerbeste: Wenn du hier an der großen Straße noch Bargeld holen willst an diesem Geldautomaten, musst du das an den ersten drei Tagen machen, sonst ist das Ding dauernd nur noch leer. Am nächsten Morgen, vor dem Eröffnungsfilm von Damien Chazelle, sagt der nette arabische Kollege, den man manchmal hier, manchmal auf der Berlinale und manchmal drei Jahre gar nicht trifft, nachdem ich ihm ein Ohr abgekaut habe, weil einer meiner Lieblingsregisseure, bei mir tatsächlich jeder einzelne seiner vier großen Filme gefallen hat, hier einen neuen zeigen will: Der Typ ist gut, stimmt schon, aber ich glaube, er lässt langsam nach, der letzte war schon nicht mehr so unberechenbar, und wenn er uns diesmal das Geheimnis auflöst, was das alles soll, seine Obsessionen und Zwangsvorstellungen, seiner unglücklichen Liebesgeschichten und so weiter, dann wirst du sehen, der kocht auch nur mit Wasser, dann wird die Enttäuschung entsetzlich sein.

Als nächstes warnt bzw. mahnt ein Gebäude: ein Hotel, in dem ich bei meinem ersten oder zweiten Mal hier prima eingeklemmt gehaust habe, in so einem als Zimmer vermieteten Postfach für Menschen, ist verrammelt und offenbar ruiniert, nicht mal mit dem Zusammenpferchen Wehrloser in Minizellen kann man also offenbar stabile Gewinne erzielen. Schließlich erzählt eine  Freundin der Allerbesten, die einen der Filme, die hier angeblich zum allerersten mal gezeigt werden, schon gesehen hat, davon, dass der noch schlechter sei als alle, die der verantwortliche Idiot zuvor verbrochen hat, obwohl das kaum mehr vorstellbar scheint und also die düsterste Vorhersage von allen ist.

Natürlich sehe ich den Eröffnungsfilm „The First Man“ von Damien Chazelle in so einer Stimmung auch gleich als Warnung: Was, wenn all die technischen Triumphe der Menschheit (na gut, der Amis) im zwanzigsten Jahrhundert, von wegen Mondlandung und Hollywood, nur kurz aufleuchtende und sofort wieder verlöschende Glühwürmchen waren, wenn es im All und auf der Welt letzlich um nix geht und man sich besser um die eigenen Leute kümmert, die Nächsten, die Familie, statt großen Breitwandideen hinterherzuträumen? Kaum aber erwäge ich das, sagt mir ein Film, der mich noch viel übler warnen will, dass Familien und Nächste in einem entsetzlichen Abschnitt der Psychiatriegeschichte völlig damit einverstanden waren, den seelisch leidenden Elektroschocks durch die Körper zu jagen und ihnen das Hirn mit dicken Nadeln kaputtzustechen.

Der Film heisst „The Mountain“, gedreht hat ihn Rick Alverson, unterstützt vom dämonisch distanzierten Kameramann Lorenzo Hagerman, und erzählt wird die Geschichte eines jungen Fotografen, der einen Quacksalber begleitet, welcher merkwürdigen Menschen die Seelen tötet und davon noch nicht mal besonders gut lebt. Der schiefe Arzt ist Jeff Goldblum, der den Film im Regen betritt, als wäre er lieber woanders; der Junge, den er für sich Bilder seiner Opfer knipsen lässt, ist Tye Sheridan, der in Spielbergs „Ready Player One“ neulich noch den puren Lebenswillen im virtuellen Durcheinander dargestellt hat, hier aber aus mal wachen, mal trüben Augen eine Situation beobachtet, bis sie ihn in sich hineinsaugt. Autofahrten durch Gruselwälder, Blut an Goldblums Händen und die unerfreulichste Art, von Sex zu handeln: Dieser Film hat alles, was Leute vermissen, denen es zu gut geht, ich hatte wirklich schon lustigere Depressionen als während der letzten zwanzig Minuten der Vorführung. Zwar übertreibt es der immer sehenswerte Denis Lavant am Ende ein bisschen mit den metaphysischen Monologen, den hätte man zügeln können (auch im Wahn gilt: You don‘t want too much of a good thing), aber insgesamt verhält sich dieses finster-klare Zeug zu dem Kuckucksnest, über das Jack Nicholson einst geflogen ist, wie ein Tiefseegraben zu eine Pfütze. Tiefe Verzweiflung, ruhig ausgerollt, toll fotografiert; ob das einen Preis kriegt oder nicht, man wird‘s nicht so bald vergessen.