Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Gewinner? Jetzt schon? Echt?

© Claudio Onorati/EPADer griechische Regisseur Yorgos Lanthimos auf dem 75. Filmfestival Venedig

Merkwürdig wäre es ja schon, wenn in der zweiten Woche des Festivals noch was Besseres als „The Favourite“ von Yorgos Lanthimos oder „Roma“ von Alfonso Cuarón gezeigt würde; die Jury müsste sich nicht schämen, wenn sie einem dieser Kerle das Dings aushändigte und den Rest der Veranstaltung zur unbeschwerten Spaßzone ohne Konkurrenzdruck erklärte – ernsthaft, erstens, Lanthimos: Emma Stone als verarmte Adlige, die sich an Rachel Weisz als der bevorzugten Hofdame der von Olivia Colman gegebenen launischsten Königin von England aller Zeiten vorbei ins Herz, ins Hirn und ins Bett der Monarchin hochintrigiert, wo sie dann im gelben Kerzenlicht finster komödiantische Politik macht, bei der die Männchen, die vorher Staat, Krieg und Geld geregelt haben, nur noch Statisterie sind: Festlich verdorbender wird’s nicht mehr, und wer rauskriegt, ob dieser Film eine Tragödie oder eine Komödie ist, gewinnt eine komplette Psychoanalyse mit Hasen- oder Entenbraten als Zugabe.

Lanthimos wird seit Jahren auf zunehmend steilerer Kurve das extreme Gegenteil von schlechter, und mit diesen drei Schurkinnen, die zugleich Heldinnen sind, hat er Figuren gefunden, die sein infames Talent nicht nur aushalten, sondern sich mit ihm in der gemeinsamen Kunst suhlen, bis es quietscht (es geht allerdings mehr um Nager als um Schweine). Eine ganz andere formatherausfordernde Frauengestalt hat dem Festival der andere eigentlich-jetzt-schon-Sieger Alfonso Cuarón beschert: Das Hausmädchen Cleo, das er in seinem Schwarzweißmonument „Roma“ so ziemlich allem aussetzt, was Herzen zertrümmern kann, vom Privatunglück bis zur historischen Katastrophe, hat der mexikanischen Schauspielerin Yalitza Aparicio die beängstigend große Aufgabe gestellt, sich gegen turmhohe Ereigniswellen zu behaupten; der unscheinbare Filmbeginn in einer Art höherer Puppenstube im Mexiko City der frühen Siebziger gibt dem Regisseur Gelegenheit, seine in der Zukunft und im Weltall schon unter Beweis gestellte Gabe voll auszuspielen, Wechselwirkungen zwischen unaufhaltsamen, zerstörerischen, das Menschenmaß übersteigenden Kräften zu lenken, damit jemand wie Sandra Bullock oder eben Frau Aparicio sich dagegenwerfen kann, um irgend etwas zu retten, das es wert ist, gerettet zu werden (wie die Königin bei Lanthimos so schön sinnlos, aber existenziell sagt: Wir müssen für das kämpfen, wofür wir kämpfen), in diesem Fall das Prinzip „Aufrichtigkeit“, gegen das alle anderen im Film verstoßen, während allein Cleo die Balance hält, bis auch sie das Gleichgewicht verliert, dabei aber auf eine Art ihrer Umgebung zur viel zu lange überfälligen Anerkennung der Wahrheit verhilft, die man nicht anders nennen kann als magisch (ganz früher, vor der allerlängsten Zeit, hieß Magie ja: etwas opfern, damit die Geister, Götter und anderen Schadens- wie Schutzmächte den Menschen ernst nehmen).

Das ist oft spannend bis kurz vor der Ohnmacht, aber natürlich kein Unterhaltungskino; umso bemerkenswerter, dass Netflix Geld in „Roma“ investiert hat. Wenn irgendwas den Zweck des Lichtspielhauses erfüllt, dann so ein Film. Die Bereitschaft der Streamingriesen, sich damit zu arrangieren, könnte das störrischste Autorenfilmemachervolk, das nicht wie Cuarón mit jenen neuen Sponsoren arbeiten will, früher oder später dazu bringen, von Netflix und Co so zu sprechen wie die akademischen Mäuse beim Dichter Karl Mickel von den Katzen, die sie mit den Tigern und Löwen (also dem klassiscgen Filmverleihwesen in seinen reichsten Zeiten): „Unsere ganze praktische Politik muss also darauf gerichtet sein, der Katze die Maße der ursprünglichen Löwen und Tiger zurückzugeben, weil dann a. wir ihnen als geringe Portionen schlichtweg aus dem Blickfeld herausfielen und b) das Verhältnis der Reaktionszeiten zu unseren Gunsten entscheidend sich ändern müsste.“