
Willem Dafoe als Pinselheiliger Vincent Van Gogh sagt, er sehe, wenn er vor einer flachen Landschaft stehe, nichts als die Ewigkeit, und er frage sich, ob er der einzige sei, der sie so sieht. Wie er sich die Landschaft als Künstler erwandert, zeigt uns der Film „At Eternity’s Gate“ vom … na gut, Künstlerkollegen des Verewigten, Julian Schnabel, als mehrfach wiederholte Begehung des Terrains rund um Arles, Frankreich: Spazier Spazier, Klavier Klavier. Die Musik ist in diesem Werk entweder aufdringlich oder abwesend, dazwischen gibt’s nichts, Glückwunsch zu dieser Radikalität – und zur Besetzung, denn Willem Dafoe sieht tatsächlich genau aus wie Van Gogh auf seinen kaputtesten Selbstporträts, sowas kann er, Dafoe sah ja auch schon genau aus wie Pasolini oder Jesus, und wird sicher, wenn es eines Tages verlangt ist, genau aussehen wie Jogi Löw oder Hillary Clinton.
Nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf Intensität setzt im selben Film Oscar Isaac als Paul Gaugin, bei dem die häufigen Wechsel aus dem Französischen ins Englische, die „At Eternity‘s Gate“ durchgängig vermerkwürdigen, völlig natürlich wirken, als wollte er sagen: Nicht nur Landschaften, auch Sprachräume sind Schauplätze, die man im Kino erforschen kann, ohne sie je ganz betreten zu müssen, man hängt immer ein bisschen in der Luft dabei, zwischen zwei Szenen, zwischen zwei Einstellungen – sehr schön, auch wenn die Monotonie einiger Erzähleinfälle, die keine sind (Takes übereinander blenden, wiederholen, Spazier Spazier, Klavier Klavier), solche graziösen Sachen dann leicht aus dem Ablauf drängeln, in den dann Dafoe sie wieder zurückzerren muss, mit verzweifeltem Gehabe, stiller Inbrunst und so Kram. Immerhin zeigt uns Schnabel, der von Bildender Kunst ja irgendwas versteht, nicht nur fertige Gemälde, sondern auch die Hand beim Malen, das sind dann ein paar putzige kleine Youtube-Tutorials für Hobbykünstler, gegen die ernsthaft niemand was haben kann, der die Notwendigkeit von Medienkompetenzpädagogik einsieht.

Völlig egal sind solche lehrhaften Strategien dagegen László Nemes, der zumindest die Feinschmeckercommunity auf dem Festival mit seinem klassizistischen Hutmachermysterium „Napszállta“ (Sonnenuntergang) absolut geplättet hat. Das Ding spielt 1913 in Budapest, „dieser staubigen Stadt“, wie ein österreichisch-ungarischer Monarchennichtsnutz darin einmal in wienerischem Deutsch sagt, aber was für ein lichtgeküsster Staub ist das, jedes Körnchen beseelt, der ganze bedrohliche Mummenschatz durchherrscht vom Schöpferwillen und –können des Urhebers, und die Hauptdarstellerin Juli Jakab als Waisenmädchen Irisz Leiter auf der Suche nach einem tödlichen Familiengeheimnis und der satanischen Realität hinter der Fassade zieht sich die Hutnadel aus dem Haar, als hätte sie das schon tausendmal gemacht, als wohne sie direkt vor dem Ersten Weltkrieg und müsste, um ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, nur noch schnell das alteuropäische Machtgefüge selbst (verkörpert durch den ebenfalls höchst rühmenswerten Vlad Ivanov) besiegen. Das Ende ist fast dasselbe wie in Thomas Manns „Zauberberg“, nur viel schlimmer, und wer erstklassige Historienschinken liebt, musste im Saal zustimmend nicken, als ein italienischer Kritiker in den Abspann mit erstickter Stimme „Leone!“ rief, was den Löwen meint, den man dem Film verleihen soll.
Wie Schnabel Arles sieht und Nemes sein Ungarn ist damit fixiert, nämlich jeweils auf die persönlichen Absichten zurechtgeschnitten, was allerdings auch schief gehen kann, wie man merkt, wenn man direkt vergleicht, wie zwei verschiedene Absichten dieser Art dieselben Schauplätze behandeln – sie nämlich einmal plätten bis zur totalen Berechenbarkeit und einmal öffnen, das man denkt: Das ist ja interessant da, was leben da wohl für Leute? Ich rede vom wilden Westen, der, wie sich auf dem Festival entdecken ließ, weil zwei Western hier in direkter Konkurrenz um die Löwen stehen, mal konventionell und höchstens ein bisschen lau ironisch aussieht, nämlich bei den Coens in „The Ballad of Buster Scruggs“ (amüsant, aber wie man früher sagte: nicht abendfüllend, und zwar trotz Überlänge), das andere mal bei Jacques Audiard in „The Sisters Brothers“, einem anfangs unscheinbaren, dann mit jedem Dialog, jeder Handlung, jeder Landschaftsaufnahme wachsenden echten Großtableau über eine Gegend, wo die Menschen ihre Gesetze selber machen müssen, aber nicht mal wissen, wie man sich die Zähne putzt.
Das Goldgräbertal der Coens sieht ausgedacht und zusammengeborgt aus (sogar die Tiere sind teils im Computer ausgebrütet worden), während das Edelmetall im Fluss von Herrn Audiard leuchtet wie die Sünde und es also richtige Männer braucht, ihm zu widerstehen, und noch richtigere Männer, ihm zu erliegen. Schauplätze sind sehr wichtig, aber nicht einfach als Drehorte – auch wenn man dem Veteranen, der an der Festivalgeländebar von Dario Argentos Zeit in München für „Suspiria“ (1977) erzählt, gern zuhört (stimmt das wirklich, sind Fassbinder UND David Bowie damals vorbeigekommen?) -, das Entscheidende am Schauplatz ist, ob er aussieht, als käme man da nur mit der Seele hin statt zu Fuß wie zu der Ausstellung über die Geschichte des Festivals, die gerade im Hotel des Bains hängt, wo ein Frankfurter Lieblingskollege immer hin will, weil er den Schuppen aus dem Kino kennt.