Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Breitwand, durch den Türspalt gesehen

© picture allianceZhang Yimou (links), der Fachmann für geschmackvoll Übertriebenes, mit den Schauspielern Guan Xiaotong und Kai Zheng bei der Pressevorführung von “Ying”

Die coolste Show (was nicht heißt: der beste Film, gute Filme sind ja noch mehr und anderes als Show) des Festivals hat die Volksrepublik China vorbeigeschickt, schön, schwer, scheppernd und blutig. Es hat sogar der Allerbesten gefallen, die neben mir saß und sonst ja eigentlich nicht dauernd rotes Zeug im Film rumspritzen sehen muss, um sich unterhalten zu fühlen. Aber bei „Ying“, möglicher deutscher Titel: „Schatten“, vom Fachmann für geschmackvoll Übertriebenes Zhang Yimou, wird vor perfekt aufeinander abgestimmten schwarzen, weißen und allenfalls grauen Hintergründen im kühlen Dauerregen um die zu erobernde altchinesische Stadt, die Pläne des Königs, Doppelgängerrätsel, Verrat, den Konkubinenstatus der Königsschwester und das beste Solo auf der Laute gekämpft, dass es nur so ratscht und rasselt, inklusive Regenschirm aus Messern, und die gefährlichsten Blicke werden nicht auf dem Schlachtfeld getauscht, sondern dringen durch Türspaltöffnungen  und betreffen Geheimnisse eher intimer als militärischer Art, von denen letztlich alles abhängt.

Was will man denn sonst noch, als Ausblick darauf, wie das Blockbusterkino aussehen wird, wenn die lieben Chinesen nach dem nächsten großen echten Krieg (oder vielleicht bevorzugterweise: stattdessen) die Weltherrschaft übernehmen? Nichts will man sonst noch, ist doch perfekt. Das Festival selber war natürlich nicht perfekt, aber voll genug mit solchen Momenten, auch kleineren, zum Beispiel bei den Kurzfilmen – wann, wenn nicht auf Festivals, kriegt man denn heute noch Kurzfilme zu sehen? Und wo kommen die guten her, wenn nicht abermals aus China, wie zum Beispiel „Na Li“ (ungefähr: “Da unten”) von Yang Zhengfan, der einfachsten Idee überhaupt: Eine Hausaußenwand mit erleuchteten Fenstern, in einem Raum spielt ein Kind mit Seifenblasen, in einem anderen steigt eine Party, draußen ist es dunkel, dann schreit wer und wir belauschen Leute, die sich darüber unterhalten, ob man nachsehen soll, was unten passiert, oder die Polizei rufen, oder lieber nicht, wir müssen ja morgen alle früh raus. Die reine Wahrheit über Städte von China bis Amerika oder Europa also, und keine ganz angenehme, aber eben deshalb: Spitzenfilm, elf Minuten, alles klar.

Nicht so toll, aber im Wettbewerb: „Capri-Revolution“ von Mario Martone, eine endlose Hippie-Nackthopserei mit historischem Kostümkram, in der ein Malerjesus einer Ziegenhirtin das Fliegen beibringt, hoffentlich kommt das bald ins deutsche Kino, damit man es nicht besprechen und auch sonst komplett ignorieren kann, vielleicht reicht das als kleine Strafe für Herrn Martone. Bestraft wurde auch der Schwachsinnige, der nach der Pressevorführung von Jennifer Kents „Nightingale“, einer auf historischen Recherchen beruhenden Vergewaltigungs- und Rache-Geschichte aus dem kolonialen Australien, als die strafgefangenen Weißen dort sozial unter den Militärs, aber über den Ureinwohnern standen, bei der Einblendung des Namens der Regisseurin laut auf italienisch „Hure“ in den Saal gebrüllt hat. „Nightingale“ ist nicht nur ein Film von einer Frau, der einzige im Wettbewerb, sondern über Unrecht, das an Frauen  begangen wurde, aber das hinderte den Idioten nicht daran, als sein Name bekannt wurde, im Internet zu erklären, es sei zwar ein Wutausbruch gewesen, den er jetzt bedaure, er habe es aber doch nicht frauenfeindlich gemeint (man will nicht mal wissen, wie er das im Hirn zusammengekocht hat oder was er, wenn nicht das Wort „Hure“, das die Frauenhasser im Film mehrfach gebrauchen, um ihren Status gegenüber der Hauptfigur zu befestigen,  wohl gerufen hätte, wenn der Film von einem Mann gedreht worden wäre). Die Akkreditierung hat man ihm entzogen, seine Erklärung, er habe doch nur „Buh!“ rufen wollen und dann stattdessen eine „übertriebene“ Alternative gewählt, weil ihm nicht ganz klar gewesen sei, dass er sich nicht in geselliger Runde mit seinen Kumpels (die man auch nicht kennenlernen will) befunden habe, hat ihn nicht davor bewahrt, jetzt woanders nach Gelegenheiten zu suchen, die politischen Botschaften von Filmen durch sein Verhalten zu bestätigen (vielleicht geht er ja jetzt in irgendein Multiplexkino und schreit rassistisches Zeug während „Black Panther“).

Weniger Schönes und Schönes, so sind Festivals zusammengesetzt, genau wie im Leben oder wie das heißt. Na gut, Bilänzchen, die diesjöhrigen Löwen-Ahnungen:

Wird wohl gewinnen (und soll‘s ruhig): „Roma“ von Alfonso Cuarón, wer sonst kann persönliche und historische Geschichten dermaßen nahtlos miteinander verfugen?

Sollte gewinnen (wird‘s aber vielleicht sogar): „Nuestro Tiempo“ von Carlos Reygadas, alle Kunstmittel des Films für alle Gefühlswirklichkeiten der Liebe, das ist schon was.

Könnte gewinnen (ist der Jury aber wohl zu finster witzig): „The Favourite“ von Giorgos Lanthimos, Kammerkillerkomödie zwischen drei Frauen.

Gewinner der (offenen, noch schlagenden, sehr grusligen) Herzen: „Suspiria“  von Luca Guadagnino. Ich würde mich für das Original ja mit jedem prügeln, aber nicht mit Guadagnino, der hat es nämlich verstanden und einleuchtend neu ausgelegt.

Sonderpreis für ein Popkonzert, das irgendwie ein Film war oder umgekehrt: „Vox Lux“ von Brady Corbet, hat zwar einige Schwächen und fällt zum Schluss leicht ab, aber wer will Natalie Portman nicht als seltsame Legierung von Taylor Swift, Miley Cyrus und Sia erleben? Weiß nicht, wer. Ich schon.

Ach so, eins noch: Wahrscheinlich kommt alles ganz anders, im Urteilsvermögen der Jury fällt plötzlich der Strom aus und Florian Henckel von Donnersmarck kriegt sämtliche Ehren für sein enormes Monumentum „Werk ohne Autor“, weil: Dieses Opus ist für die Kunst und gegen Hitler, ein mutiges, ungewöhnliches Statement, wie man es nicht alle Tage sieht oder was. Mehr Zeug dieser Art dann garantiert im nächsten Jahr, herzlichen Glückwunsch!