Seit gestern gibt es auf der Berlinale einen Favoriten für den Goldenen Bären: „So Long, My Son“ ist ein bitteres Epos über die Geschichte der Volksrepublik. Der dreistündige Film hat nebenbei auch den ganzen Tag hindurch den Tratsch über die Absage von Zhang Yimou beflügelt. Denn heute sollte ja noch ein Film aus China laufen: „One Second“ wurde kurzfristig wegen „Problemen bei der Postproduktion“ zurückgezogen. Das Festival hat damit Gesprächsstoff bekommen. Die naheliegende Frage wäre: Wenn „One Second“ tatsächlich, wie manche mutmaßen, in Wahrheit aus politischen Gründen zurückgehalten wurde, wegen des heiklen Themas der Kulturrevolution, wie konnte “So Long, My Son” dann die Freigabe bekommen? Denn in diesem Film türmen sich die Probleme mit dem brutalen Eingriff des Staates in die Leben der Menschen ja noch viel deutlicher auf, als bei Zhang Yimou, über dessen Film bisher nur spekuliert werden kann? Reicht es da wirklich, dass Wang Xiaoshuai letzlich alles auf einen östlichen Stoizismus hinauslaufen lässt, um das fragile Verhältnis zwischen Gegenwart und Geschichte ins Lot zu bringen?
Die zweite Hälfte der Berlinale stand für mich nicht nur dieser Fragen wegen im Zeichen der Diplomatie. Mitte der Woche hatte ich eine Einladung aus der Botschaft von Usbekistan erhalten: Der Delegationsleiter der Uzbekkino National Agency auf dem European Film Market stünde zu einem Gespräch zur Verfügung. Usbekistan hat keinen Film auf dieser Berlinale, trotzdem fand ich diese Sache interessant. Denn das zentralasiatische Land öffnet sich gerade ein wenig nach langen Jahren despotischer Herrschaft. Ich vereinbarte einen Termin. Als ich tags darauf um die Mittagszeit zu dem Stand des Filmlandes Usbekistan im Gropiusbau kam, war der besagte Delegationsleiter bereits abgereist, wurde aber hochrangig vertreten durch Mukhlisa Azizova, Chairman of Uzbekistan National Film Commission. Bald stellte sich heraus, dass sie auch Regisseurin des Films ist, mit dem Usbekistan auf dem European Film Market besonders wirbt: “Scorpion”.

Usbekistan ist ein muslimisch geprägtes Land, das nun auf den westlichen Filmmärkten vor allem eines sein will: modern. Ich unterhielt mich mit dem weiblichen Chairman eine Weile über staatliche Subventionen, Märkte und kulturelle Fragen. Dann bedankte ich mich für das Gespräch, zum Abschied erhielt ich eine Tasche, und das Versprechen, mir Links zu usbekischen Filmen zuzuschicken. Diese Streams sind bisher nicht eingetroffen, ich habe mir aber in jedem Fall vorgenommen, “Scorpion” dieses Jahr noch irgendwo zu sehen. Auf Instagram, wo Frau Azizova fast 9000 Follower hat, kann man sehen, dass sie inzwischen in Hamburg ist. Ein anderes Bild deutet an, dass die Zeit in Berlin erfolgreich war.
Der Abstecher nach Usbekistan hätte ich wahrscheinlich nicht gemacht, hätte sich nicht ein kleiner geopolitischer Schwerpunkt in meinen Berlinale-Interessen ergeben: von meiner Begegnung mit Mariam Ghani habe ich bereits berichtet. Und dann war da noch dieser Film in der Reihe Generation Kplus: „Di yi ci de li bie“ von Wang Lina. Da hatte mich vor allem die Inhaltsangabe neugierig gemacht: ein Kinderfilm über die Kultur der Uiguren in China.

Die Regisseurin stand für Interviews zur Verfügung, ich bekundete mein Interesse. Und dann begannen die Verhandlungen: ich dürfte alles fragen, außer über Politik. Mich interessierte aber in erster Linie die Politik. Allerdings nicht in dem Sinn, wie es die Produzenten von “A First Farewell” offensichtlich befürchteten. Ich wollte nicht über Umerziehungslager in Xinjiang sprechen. Ich wollte verstehen, zu welchen Bedingungen eine chinesische Regisseurin dieses heikle Thema kultureller Differenz in der Volksrepublik überhaupt behandeln darf.
Die Antwort ist ganz einfach: es wird universalisiert. Wang Lina stammt selbst aus der Gegend. Wenn am Ende der kleine Held ihres Film weiter die Schafe hütet, während die Töchter einer Nachbarsfamilie in die Stadt in eine Mandarin-Schule müssen, dann geht es nicht um unterschiedliche Wege auf dem chinesischen Weg in die Moderne, sondern um die alte Frage zwischen einer agrarischen und einer urbanen Kultur. “A First Farewell” entspricht voll und ganz offiziellen chinesischen Lesarten des Konflikts in Xinjiang. Trotzdem fühlen sich die Produzenten bemüßigt, die Regisseurin zu „schützen“ – vor möglichen Rückwirkungen in der chinesischen Filmpolitik, die daraus entstehen könnten, dass ein Journalist in Deutschland zu einem anscheinend vollkommen harmlosen Kinderfilm die falschen Fragen stellt. Ganz am Rande der Berlinale habe ich da also noch ein Beispiel für die spezielle Diplomatie erlebt, mit der die Volksrepublik dem Austausch von Bildern die Bedingungen diktiert.
Zum Abschied frage ich Wang Lina noch nach ihren Lieblingsregisseuren. Sie nennt Nuri Bilge Ceylan aus der Türkei. “Der wilde Birnenbaum” war letztes Jahr auch einer meiner Favoriten. Wir treffen uns also irgendwo in der Mitte der Kulturen, die in Zentralasien einmal zusammenkamen. Heute treffen sie dort wieder aufeinander. Ich hoffe, der Link zu “Scorpion” kommt bald.
