1994 war ich zum ersten Mal bei einer Berlinale. Als Filmkritiker war ich ein Anfänger, als Berlin-Besucher auch. Das Festival fand damals noch im Westen statt, in einem Kudammkino, das es heute nicht mehr gibt, liefen in der Retro die Filme von Erich von Stroheim. Zu den Pressevorführungen des Wettbewerbs musste man in die Akademie der Künste am Hanseatenweg. Das Forum fand im Delphi statt, das ist bis heute so, allerdings war das Arsenal, zu dem das Forum gewissermaßen gehörte, noch unweit des KaDeWes und nicht, wie heute, in den Quartieren am Potsdamer Platz.
Im Delphi fand 1994 der Höhepunkt meiner Initiation in die Welt der großen Filmfestivals statt. Die Vorführung von „Sátántangó“ begann schon am Nachmittag. Siebeneinhalb Stunden mit einem ungarischen Film in Schwarzweiß, der jeden Unterschied zwischen kommunistischer und postkommunistischer Apokalyptik belanglos werden ließ. Ein Film in Zeitlupe über das Ende der Geschichte.

Ich war von der ersten Szene an, in der eigentlich nur Pferde unruhig herumlaufen, gebannt, musste aber irgendwann raus. Ein Interview mit dem australischen Regisseur Peter Weir stand auf dem Programm, das war der andere Höhepunkt in diesem Jahr, einen Begegnung mit dem Mann, der “Picknick am Valentinstag” gemacht hatte, und nun mit “Fearless” bei der Berlinale zu Gast war. Jeff Bridges spielte einen Mann, der einen Flugzeugabsturz überlebt, danach aber nicht mehr derselbe ist. Peter Weir erwies sich als höflicher, kluger Mann, das Interview lief gut.
Danach eilte ich ins Delphi zurück. Ich erinnere mich nicht, wie „Sátántangó“ ausging, um ehrlich zu sein, könnte ich nicht einmal mehr mit Sicherheit sagen, dass ich danach bis zum Schluss geblieben bin. Die zwei Stunden, die mir zwischendurch fehlten, ließen sich an diesem Tag sowieso nicht mehr aufholen.

Vielleicht fünfzehn Jahre später wollte ich mit „Sátántangó“ noch einmal Ernst machen. Und zwar dieses Mal wirklich. Ich las das Buch von László Krasznahorkai, besorgte mir die DVD – inzwischen war das Zeitalter der Beamer angebrochen – und machte mich voller Erwartung an die Arbeit. Über ein Wochenende verteilt wollte ich die 450 Minuten Schwarzweißaufnahmen aus einem verregneten ungarischen Provinzkaff endlich vollständig schauen.
Aber es ist wie verhext: ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, ob ich das damals geschafft habe. In dem Buch steckt ein Lesezeichen eher in der Mitte, danach sind keine Unterstreichungen mehr. Jetzt weiß ich nicht, ob ich die abgebrochene Lektüre auf den Film projiziere, oder die Ereignislosigkeit des Films auf meine Erlebnisse damit, oder vielleicht passiert ja sogar eine Menge, und ich habe es vergessen – oder doch nie gesehen. Dass es sich bei „Sátántangó“ um einen Höhepunkt der Filmgeschichte handelt, kann ich, glaube ich, in jedem Fall, vertreten.

Heute Nachmittag lief eine digital restaurierte Fassung. Eigentlich hätte ich da unbedingt hin gemusst. Allerdings möchte ich um halb sieben zum Fußball. Jetzt bin ich unschlüssig: vielleicht heute nur den halben Film anschauen? Wenn ich um neun aus dem Olympiastadion ins Delphi zurückkomme, dann könnte ich in jedem Fall den Schluss sehen. Aber dann fehlt mir wieder gerade der Teil, der damals wegen des Interviews ausfiel. Ich seh’s schon, das wird noch eine Lebensaufgabe mit „Sátántangó“. Vielleicht lese ich jetzt erst mal das Buch zu Ende. Und zwar am besten noch mal von Anfang an.