„Long live the struggle of the Sudanese people!” Der Kampfruf von Suhaib Gasmelbari verlieh der Preisverleihung bei der Berlinale am Samstagabend eine unvermutete politische Dimension. 1700 Gäste waren gekommen, es wäre spannend gewesen, hätte man eine kleine Umfrage abhalten können: Haben Sie in den letzten Wochen vom Kampf des sudanesischen Volkes Notiz genommen? Es gab durchaus Berichte in den Zeitungen, aber so richtig Schlagzeilen machen Demonstrationen für eine bessere Regierung in einem afrikanischen Land nicht. Der Film, für den Suhaib Gasmelbari mit dem Glashütte-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde, heißt “Talking About Trees”, er erzählt von vier Veteranen des Kulturbetriebs im Sudan, und von der Tatsache, dass man von einem Kulturbetrieb nicht wirklich sprechen kann. Das hat historische und politische Gründe, die Protagonisten sind alle alt genug, um viele von diesen Gründen quasi am eigenen Leib erfahren zu haben.

Die Berlinale ging als Fest der Freundschaft zu Ende. Früher sprach man von Völkerfreundschaft, und zwei Systeme versuchten, einander wechselseitig die Völker abspenstig zu machen. Heute kommen bei einem kulturellen Großereignis im Westen alle Völker zusammen: Suhaib Gasmelbari hat eine französische Produzentin, Angela Schanelec hat einen serbischen Kameramann, der Argentinier Manuel Abramovich (Silberner Bär der Kurzfilmjury für “Blue Boy”) hat einen rumänischen Creative Producer, und der israelische Regisseur Nadav Lapid hat einen tunesisch-französischen und einen Schweizer Produzenten, und er hat seinen Film “Synonymes” in Paris gedreht.

Am Ende des Abends gab es für “Synonymes” den Goldenen Bären für den besten Film. Das war dann zu diesem Zeitpunkt schon keine Überraschung mehr. Die Verleihung der Bären folgt einem Protokoll, sie soll spannend sein, aber ein bisschen Planung muss auch sein. So kann man im Grunde schon beim Vorlauf am roten Teppich erkennen, die sich der Abend entwickeln könnte. Der goldene Handschuh war zum Beispiel schon draußen vor der Tür nicht eben stark repräsentiert, Fatih Akin wurde nicht gesichtet, Jonas Dassler immerhin kam. Die beiden deutschen Vertreterinnen im Wettbewerb waren beide mit Entourage erschienen: Nora Fingscheidt und Angela Schanelec. Beide erhielten einen wichtigen Preis, Schanelec für die beste Regie (Silberner Bär für “Ich war zuhause, aber”), Fingscheidt den Alfred-Bauer-Award für einen Film, der künstlerische Perspektiven eröffnet (“Systemsprenger”).
In dem Moment, in dem diese beiden Preise durch waren, muss Nadav Lapid gewusst haben, dass er nun Favorit auf den Hauptpreis war, und als Francois Ozon für den Großen Preis der Jury (Silberner Bär für “Grace à Dieu”) auf die Bühne gerufen wurde, konnte Lapid innerlich jubeln. Denn nun war nur noch sein Film übrig.

Die Entscheidung für “Synonymes” ist auch Ausdruck einer Jury-Zusammensetzung, die intellektueller und cinephiler (und sinnvollerweise auch kleiner) war als der übliche Mix aus Funktionen und Regionen: unter dem Vorsitz von Juliette Binoche wurde der Wettbewerb der 69. Berlinale mit plausiblen Entscheidungen abgeschlossen.
Den leidenschaftlichsten Moment gab es allerdings bei einer Entscheidung, die noch im Vorfeld der Bären lag: Der GWFF-Preis für den besten Erstlingsfilm ging an “Oray” von Mehmet Akif Büyükatalay, eine Auseinandersetzung mit dem Buchstaben islamischer Regeln und dem Geist der freien Zuneigung. Der junge Regisseur dankte seinen zwei Familien (der richtigen in Hagen in NRW, und der Kunstfamilie in Köln an der KHM), und bekannte sich dann zu der Religion, der am Samstagabend gehuldigt wurde: er rief dazu auf, „an das Kino zu glauben“, und brachte sehr unmittelbar zum Ausdruck, wieviel es ihm bedeutete, in diesem „Tempel“ gewürdigt zu werden. „Tempel aber müssen zerstört und neu aufgebaut werden.“

Zu den wichtigsten Errungenschaften der Religion des Kinos zählt der Umstand, dann man damit Tempel einreißen kann, ohne auch nur einem Ziegelstein etwas zuleide zu tun. Das mit dem Aufbauen ist wieder eine andere Sache. Dafür sind im kommenden Jahr bei der Berlinale einige neue Menschen zuständig. Lang lebe in jedem Fall der Kampf des sudanesischen Volkes.