Wer über die Vereinigten Staaten etwas erfahren will, was nicht in der Zeitung steht und nicht aus dem Marvel Cinematic Universe kommt, ist in Cannes in diesem Jahr ganz gut aufgehoben. Auch wenn Jim Jarmuschs Zombie-Film, was die Lage seines Landes anging, eher unergiebig war mit seinen hölzernen Horrorfilm- und Selbstzitaten und einer Art zu filmen, die an Arbeit auf Autopilot grenzte.

Ganz anders Annie Silverstein. „Bull“ heißt ihr Film einfach, es ist ihr Langfilmdebüt (mit einem Kurzfilm war sie schon mal hier), und statt mit großer Posen inszenierte sie ihre Figuren und ihre abgehängte Welt irgendwo in Texas mit genauer Beobachtung und einer herben, zurückhaltenden Zärtlichkeit. Wer nicht weiß, was das ist, kann es hier lernen. „Bull“ ist mehreres – die Geschichte vom Aufwachsen eines jungen Mädchens, Kris, und allen Überforderungen, die damit zusammenhängen, in der Schule, der Sexualität, zu Hause. Zu Hause besonders, denn das besteht hier nur aus einer Großmutter, die Diabetes hat, und einer kleinen Schwester; die Mutter ist im Knast. Und es ist die Geschichte einer unwahrscheinlichen Freundschaft zwischen Kris und ihrem Nachbarn Abe, der beim Black Rodeo arbeitet. Seine besseren Zeiten liegen hinter ihm, er versucht, den Anschluss nicht ganz zu verpassen, dazu gehören Eisverbände auf die Prellungen, OxiCodin für die Schmerzen, und eine Menge Alkohol. Kris bricht einmal bei ihm ein und schmeißt für ein paar Freunde eine Party mit seinem Gin, seitdem muss sie für ihn arbeiten. Die Welt dieser Figuren ist, anders als bei Jarmusch, aus dem Kino fast gänzlich unbekannt, arm, das vor allem, nicht immer gut ausgeleuchtet, abgeschnitten von allem, was im Rest der Welt passiert, und nur mit den Folgen konfrontiert. Nach dem Film draußen staunt man über die Croisette, die Sonne und das Meer.
Ein guter Augenblick, wieder fliegen zu gehen in Laurie Andersons VR-Installation „Falling off Snow Mountain“. Heute hat es geklappt. Das ist bei VR nicht die Regel, oft braucht es mehrere Anläufe, bis die Technik läuft, die jung ist und unausgereift und immer noch die großen schweren Brillen braucht und die Steuerungsgeräte, die man in den Händen halten muss. Aber als es im dritten Anlauf tatsächlich losging, und ich die Arme ausbreitete, am Handgelenk ein rotes Licht erkannte und auf dieses Zeichen hin die Hände auf den Rücken legte und dann die Arme nach vorn schnellen ließ – da hob ich tatsächlich ab. Und landete irgendwann auf dem Mond, die Milchstraße vor mir. Und unter tausend Sternschnuppen vergaß ich Texas, OxiCodin, Trump und Jim Jarmusch und schwebte eine Viertelstunde lang durchs All. Ein All, in dem ein Einhorn auftauchte und eine Riesengiraffe und ein Esel, auf dem ich zu reiten schien. In einem Film ein paar Stunden vorher hatte es psychotrope Drogen gegeben, die Sache kam mir also gar nicht sonderbar vor. Die Erde tauchte auf und ging wieder unter, und Laurie Anderson erzählte in ihrer Tante-am-Lagerfeuer-Stimme davon, wie wenig wir den Sternen anhaben können. Alles andere, was wir anfassen, geht ja kaputt. So war das neben ein paar ziemlich guten Filmen die beste Nachricht dieses Tages: bis auf weiteres sind die Sterne vor uns sicher.