Ist es Traum oder Alptraum eines jungen Filmemachers, wenn Quentin Tarantino in seiner Premiere auftaucht? Schwer zu sagen. Midi Z aus Myanmar war offenbar vorbereitet. Er stand mit zwölf seiner Teamkollegen auf der Bühne und erklärte, sein Film sei als Film im Film strukturiert, ein Format, dass auch Tarantino mag. Deshalb sei es fast ganz natürlich, sozusagen selbstverständlich, dass er auftauche: „Hi, Quentin.“ Der winkte zurück, stand auf, hob den Arm in einer Imperatorgeste und setzte sich wieder. Tarantino, für den eine ganze Sitzreihe freigehalten worden war, die sich mit Beginn der Vorstellung aber füllte, war während des gesamten Films überaus aufmerksam. Lehnte sich vor, saß aufrecht, schlief nicht. Ich weiß das, weil ich hinter ihm saß.
Der Film hieß „Nina Wu“ und lief in der Nebenreihe Un certain regard. Die beiden Hauptdarstellerinnen waren Wu Ke-xi in der Titelrolle und Sung You-hua als ihre beste, aber auch zwielichtige Freundin. Das ist das einzige, was ich mit Sicherheit über diesen Film, der in Taiwan auf Mandarin produziert wurde, sagen kann. Mehre Erzählstränge verdrehen sich möbiusbandartig ineinander, oder ist es immer derselbe? Midi Z arbeitet mit Wiederholungen, leichten Variationen, neuen Motiven, viel Rot und viel Geschrei, und mysteriöse Dumplings haben auch ihren Auftritt.
Kino ist Kontext – und der Kontext, den die Anwesenheit von Tarantino schuf, hieß Harvey Weinstein, #MeToo, sexualisierte Gewalt beim Casting und am Set, die ganze Chose, die seit den ersten Enthüllungen über Weinsteins Nötigungen, Übergriffe, möglicherweise Vergewaltigungen aufgebrochen ist.
Tarantino, der Harvey Weinstein seine Karriere verdankt und mit seinem neuen Film zum ersten Mal ohne diesen genialen Strippenzieher auskommen muss (eine Position, aus der heraus er seine Schweinereien begangen hat), hat sich schnell von ihm distanziert. Gegenüber Uma Thurman, die ihm respektloses Verhalten am Set vorwarf, hat er sofort um Vergebung gebeten.
Es geht nicht um ihm, wenn „Nina Wu“ den Eindruck hinterlässt, der Film sei ein Re-enactment vieler Erzählungen billigsten Missbrauchsverhalten in der Filmindustrie. Es soll auch eine poetischere Ebene geben, die ich nicht verstanden habe. Was ich gesehen habe, war dies: wie ein Produzent verschiedene Frauen zum Casting kommen lässt, Sexszenen zum Vorsprechen aussucht, und Darstellungsmöglichkeiten prüft, indem er die Frauen als Hunde auf dem Hotelteppichboden herumkriechen lässt. Möglicherweise galt die Aufmerksamkeit Tarantinos nicht nur diesem Werk, sondern auch dem Saal, in dem es aufgeführt wurde. Es war nämlich das Kino, in dem am Dienstag Nachmittag die erste Pressevorführung seines hier heiß erwarteten Films „Once Upon a Time in Hollywood“ stattfinden wird. Eine Projektion in 35mm. Um neunzig Minuten versetzt beginnt die Gala nebenan im großen Saal. Und am Montag schon hatte man den Eindruck, es wird sich um eine historische Stunde handeln.
Der Aufmarsch auf dem roten Teppich wird jedenfalls eindrucksvoll sein. Und historisch insofern, als Tarantino auf den Tag genau vor 25 Jahren am selben Ort „Pulp Fiction“ vorstellte. Der Film wurde damals gemischt aufgenommen. Er war der letzte Film des Festivals, und manche haben ihn gehasst, manche als einen Weg in die Zukunft gefeiert, weil er etwas Neues ins Kino brachte, eine neue Coolness, die eine alte ablöste. Tarantino gewann die Goldene Palme. Und auch damit wurde Harvey Weinstein für mehr als zwanzig Jahre der König von Cannes. Der alle Parties beherrschte. Jeden Raum. Der die Puppen tanzen ließ, wie es damals hieß. Erst seit kurzem wissen wir, was das eigentlich bedeutete.