Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Lustig? Traurig? Lebensbedrohlich? Abwarten.

Wo von so vielen Leuten dauernd so viel kommuniziert wird wie auf diesem Filmfest, per Kunstwerk, von Angesicht zu Angesicht, mittels Handy und Computer, wird ungeheuer viel missverstanden. Mir ging es gleich beim ersten Gang übers Gelände so, als eine freundliche junge Italienerin auf einmal vor mir stand, die Augen aufriss, als wäre ich wer, und etwas rief wie: „Triihl Fereffe!“ Erst als ich ihr mit etwas wie Englisch und unbeholfenen Gesten bedeutete, dass ich nicht verstand, konnte sie mir dabei helfen, ihre Begeisterung zu begreifen: Ich trug ein T-Shirt mit dem Logo des erfundenen Clubs „Tric“ aus der Fernsehserie „One Tree Hill“, und ihr italienisch-englischer Ausruf bezog sich, wie ihre Handbewegungen Richtung T-Shirt mir schließlich begreiflich machten, auf diese Show und ihre Meinung dazu: „Tree Hill Forever!“, was denn sonst?

Wenn man was nicht kapiert, ist das immer, als hätte man was verpennt, als wäre man nicht wach genug, um unter Menschen zu gehen. Allzu schöne oder schlimmer Erlebnisse erwischen uns als Unausgeschlafene, deshalb sagt Adam Driver zu Scarlett Johansson in „Marriage Story“, einem der besseren Filme im diesjährigen Wettbewerb, ja auch, er habe das Gefühl, er träume.

© Vendor House Productions/dpaMila Alzahrani in Haifaa al-Mansours “The Perfect Candidate”

Ein Film, bei dem mir das diesmal bis zur letzten Einstellung so ging, als ein blaues Auto sich in den saudi-arabischen Feierbandverkehr einfädelt, mit der Heldin des Films am Steuer, um die man bis dahin oft so große Angst hat, dass man gar nicht dazu kommt, zu merken, wie sehr man sie bewundert, heißt „The Perfect Candidate“; die Regisseurin Haifaa al-Mansour hat ihn gedreht, eine der wenigen Frauen im Wettbewerb (wieder mal, denn kein Feminismus kann je so langweilig sein wie die Gründe, aus denen man auf ihm bestehen sollte). Die Heldin ist Ärztin in ihrem Land, von dem ich nur weiß, dass es da Öl gibt und ein Königshaus und Schläge für Meinungen und Lebensgefahr für staatlich unerwünschte Sorten Liebe.

Die Ärztin will einen besseren Job als denjenigen, den sie hat, in einer Notfallklinik, vor der eine schlammige Straße seit Ewigkeiten darauf wartet, asphaltiert zu werden. Erst sieht man von der Schauspielerin Mila Alzahrani, die diese Frau spielt, die alle „Doktor Maryam“ nennen, nur durch den Niqab-Sehschlitz, und man hört und erkennt, wie sie sich mit nichts als präzisen Worten und Blicken wehrt, wenn etwa ein halsstarriger alter Patient nicht von ihr, sondern nur von einem Mann untersucht werden will. Sie möchte an einer medizinischen Konferenz teilnehmen, um dort eine neue Stelle zu suchen oder wenigstens ein paar Kontakte zu diesem Zweck zu knüpfen, aber ihre Flugerlaubnis ist abgelaufen, und ihr Vater, der legal ihr Vormund ist, kann sich nicht drum kümmern, denn er ist Musiker und mit seiner Band unterwegs (die religiöse Extremisten fürchten muss, deren Hass auf Musik sehr weit geht, entgegen den Wünschen und Bemühungen seitens liberaler Kräfte im Königshaus – die Haltung der Bandmitglieder ist fast so tapfer wie die von Doktor Maryam: „Drohungen gab es immer, aber das Neue ist, jetzt haben Musiker Unterstützung.“).

Doktor Maryam wird auf einem Amt vorstellig, um ihre Flugerlaubnisverlängerung selbst zu erwirken, aber da an diesem Tag nur Leute vorgelassen werden, die sich für eine  Kandidatur in der nächsten Lokalwahl anmelden wollen, meldet sie sich kurzerhand an und ist damit auf einmal Politikerin. Ihre Reiseerlaubnis kriegt sie zwar trotzdem nicht, aber dafür fällt ihr sehr schnell ein Programm ein: Sie will, dass die Straße vor ihrer Klinik endlich asphaltiert wird, verspricht das auch den Frauen, die ihre Schwestern für eine Wahlparty mobilisieren („Wollt ihr euch durch den Schlamm kämpfen, wenn euren Kindern was passiert?“) und weigert sich zunächst, daraus „eine Frauenrechte-Sache“ zu machen, es geht ihr wirklich um die Sache, die Straße – bis sie erleben muss, wie wenig man sie, die Tochter einer Sängerin und eines Musikers, als Kandidatin ernst nimmt (selbst ihre jüngere Schwester sieht die Kandidatur nur als verrückte Idee, und fürchtet, der Tratsch darüber werde „ihr Leben zerstören“).

Eine Wahlveranstaltung für Männer, bei der Doktor Maryam nur per Video zugeschaltet ist, weil sie sich nicht mit ihnen im selben Raum aufhalten darf, wird beinah zur Katastrophe (ein Idiot beschimpft sie, woraufhin sie ins Zelt stürmt), am Ende reagiert die etablierte Macht mit einem Baubeginn auf der Straße vor der Wahl, die Doktor Maryam deshalb verliert, wenn auch nur knapp – sogar der Opa mit der Armverletzung, der sie zunächst nicht an sein Krankenbett lassen wollte, hat für sie gestimmt, sie sei nämlich eine gute Ärztin und deshalb auch eine gute Politikerin, nämlich die Zukunft, erklärt er mit rührender Ernsthaftigkeit am Ende.

© ReutersDie saudi-arabischen Schauspielerinnen Dhay (l.) und Mila Al Zahrani in Venedig

Was meine ich, wenn ich sage, dass ich diesen Film bis zum Schluss nicht verstanden habe, erst in der allerletzten Szene, ich kann ihn doch schließlich nacherzählen? Was ich meine, ist, dass ich zwar gesehen, gehört und (in Gestalt der englischen Untertitel) auch gelesen habe, was da passiert, aber nicht wusste, was es als Film bedeutet: Wohne ich einer Tragödie bei, wird diese Frau sterben, wird sie leiden, wie sehr, oder ist das eine Farce, deute ich das gerade richtig, diese Szene auf dem Amt, die mir vorkommt wie ein Sketch von Loriot, also lustig, darf ich lachen, oder werde ich das gleich bereuen, hat das was mit Kafka zu tun, muss ich den Koran kennen?

Erst als mir das klar war, verstand ich, dass ich mich der Erzählerin hinter der Kamera und der Darstellerin davor diesmal ausliefern muss, dass ich nicht ganz wach sein kann, nicht eher aufwachen werde als bis zum Ende (es war keine Tragödie, sondern ein Stück Hoffnung), dass ich, wie immer bei Verständnisproblemen, schlafe, aber so, wie man schlafen würde, wenn man nicht wirklich schläft, sondern träumt, dass man schläft, und zwar deshalb, weil jemand anderer diesen Traum gemacht hat, damit man hineingeht und hindurchgeht, ohne zu wissen, worauf das alles hinausläuft.

Richtig, denke ich auf einmal, so war das ganz am Anfang, als Kind, bei den ersten Filmen, beim ersten Mal Fernsehen. Und es kommt nur wieder, wo man sich nicht alles selbst aussuchen kann, was läuft. Wie beim Festival halt, und beim Leben.