Eine Frau, die mitten im vierten Lebensjahrzehnt steht und von Film berufshalber genug versteht, um schauspielerische Leistungen nach höheren Kriterien als nur „sieht gut aus“ oder „geht zu Herzen“ beurteilen zu können, lobt im Gespräch auf dem Festivalgelände eine kurze Szene gegen Ende von Shannon Murphys ohnehin, also insgesamt sehr beeindruckendem Drama „Babyteeth“, als ein vom 1969 geborenen Schauspieler Ben Mendelsohn gespielter Vater, der weiß, dass seine junge Tochter bald sterben muss, für ein Foto lächeln soll, das sie von ihm machen will.

Mendelsohn spielt einen, der so tut. Als stünde er nicht kurz vor dem Zusammenbruch, weil er plötzlich begreift, dass sein Leben nie wieder sein wird, wie er es kennt – Altern, der nahende eigene Tod, das alles passiert mit ihm, das alles teilt er mit, einen Wendepunkt. Mir fällt ein anderer Wettbewerbsfilm ein, in dem es einen ähnlichen Moment gibt, Atom Egoyans „Guest of Honour“. Da gibt es einen Moment, in dem ein anderer Vater einer leidenden Tochter (sie muss nicht sterben, sitzt aber im Gefängnis), der auf verwickeltem Weg Ehrengast einer Party ist, die es eigentlich gar nicht gibt, einer vorgetäuschten Party, gebeten wird, ein paar Worte ins Mikrofon zu sagen, aber statt der paar lustigen oder platten Bemerkungen, die man sich von ihm erhofft, spricht dieser Mensch, gespielt vom 1963 geborenen David Thewlis, auf einmal seine Wahrheit aus, leicht angetrunken, rührend, traurig, hilflos, nämlich dass er sein Kind, jetzt eine erwachsene Frau, nicht beschützen, nicht retten konnte, und ihm so alles entglitten ist, was er festhalten wollte.

Die Aussichten, je wieder „der Alte“ zu werden, wer immer das war, sind nicht gut, er sieht das, er sagt das, lauter Wildfremden, genau wie Thewlis, der es spielt. Als ich davon spreche, weiß ein weiterer Kritiker, der an der kleinen spontanen Runde zum Lob eines bestimmten Schauspielertypus und einer bestimmten, auf diesem Festival kurios häufig vertretenen Rollensorte teilnimmt, noch ein drittes Beispiel aus dem Wettbewerb: In „Gloria Mundi“ von Robert Guédiguian spielt der älteste Darsteller dieser kleinen Vergleichsreihe, der 1952 geborene Gérard Meylan, einen Vater, der seine Tochter nicht beim Großwerden erleben konnte, weil er zwanzig Jahre im Gefängnis verbracht hat.

Als er zurückkehrt in die Freiheit, hat seine Frau, die Mutter der Tochter, einen neuen Mann, und die Tochter selbst eine Tochter. Der Großvater findet nicht in die Gesellschaft zurück, schreibt Haikus, geht mit dem Baby, das er hin und wieder betreuen darf, allein spazieren, erzählt dem Kind vom Leben und erkennt am Ende, dass das einzige, was er für die Reste seines Familienlebens tun kann, ihn wieder ins Gefängnis bringen wird. Er nimmt es auf sich, weil mehr nicht zu tun ist, er hilft, wo er kann, und akzeptiert, dass er dafür bestraft wird, denn eine zweite Chance gibt es nicht, dieses Leben ist gelebt.
Zwei Stunden später sitze ich wieder in der lieben Nacht vor der Leinwand und denke, weil da nichts besonders Interessantes passiert, über die alten weißen Männer nach, die verbrauchten Väter, die mit Würde die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen ertragen, und mir fallen ein paar Freunde ein, die so alt sind wie ich, Väter alle – ich bin ein Jahr jünger als Ben Mendelsohn und kinderlos, deshalb mache ich mir um keine Tochter Sorgen und um keinen Sohn, wohl aber um einige meiner Freunde, die derzeit, so um die Fünfzig, sich selbst und ihre Kinder in die Lage versetzen müssen, Dinge auszuhalten, wie sie in den genannten Filmen vorkommen, teils auch weniger schlimme, manchmal aber schlimmere. Und mir fällt auf, während der Kram oben, vorne, in Breitwand, sich zieht und nicht zum Punkt kommt, dass einige von uns angegrauten Jungs den von Natur und Weltlauf gegebenen Sorgen dieses Lebensabschnitts Paroli bieten wollen, indem sie sich jünger denken, indem sie mutwillig unreifer fühlen – indem sie Schritte unternehmen, die mit dreißig noch Sinn tragen und zu irgendetwas Gedeihlichem führen könnten, mit vierzig vielleicht, wenn man Glück hat, auch noch, aber nicht mehr mit fünfzig.
Da gibt’s große Narrheiten, ungesunde Obsessionen, auch kleine Fehler auf dieser Linie – ich zum Beispiel habe neulich in einem Text gedankenlos ein Ereignis, von dem ich wusste, in welchem Jahr es stattfand, als „vierzig Jahre her“ bezeichnet, dabei ist es fünfzig Jahre her – ich begreife, wie das zugeht, dass Kerle nicht begreifen, dass es schon so spät ist. Und deshalb soll man den drei Schauspielern, deren jüngste Leistungen ich hier besinge, dafür danken, dass sie uns Beispiele zeigen, dass sie uns Modelle entwerfen dafür, wie man so sein kann, ohne auf die Filmrollenmuster der Vergangenheit zurückzugreifen, als der alternde Humphrey Bogart, der schon fast greise John Wayne oder der nicht mehr junge Bruce Willis immer nochmal das große Ganze zusammenhalten mussten, wenn nötig mit Gewalt. Heute sind andere dran, den Laden zu schmeißen, und man muss einen Weg finden, sich einerseits immer noch zu kümmern, aber andererseits nicht Chef, König, Direktor sein zu wollen – wie eben die drei Kerle in den drei Kunststücken, von denen hier die Rede war.