
Gestern Abend habe ich eine Weile über den Buchstaben M nachgedacht. Das hatte damit zu tun, dass Samuel Finzi, Schauspieler aus Berlin und aus Bulgarien, die Moderation der Eröffnungszeremonie auf eine zentrale Pointe aufgebaut hatte: er kam als Peter Lorre. Es lief eine Menge durcheinander an diesem Abend, an dem von den Morden in Hanau das Wesentliche zwar schon bekannt war, die Aufklärung aber natürlich erst am Anfang stand. Peter Lorre, geboren 1904 als László Loewenstein in Rosenberg, Österreich-Ungarn, hat in “Casablanca” mitgespielt, und er hat Deutschland mit dem Thriller “Der Verlorene” (1951) den wohl am schwierigsten in eine Vergangenheitsbewältigung zu integrierenden Kinomonolithen hinterlassen. Vor allem aber war Lorre Hans Beckert, der Kindermörder in “M” von Fritz Lang.
Die Gagschreiber von Samuel Finzi müssen diese zentrale Idee für die Moderation der Berlinale-Gala wohl schon vor Hanau gehabt haben: ein Spiel mit den Valenzen des Buchstabens M, der für so vieles stehen kann – Männer, Minderheiten, Migrationshintergrund. Auf einen weiteren denkbaren verzichtete Finzi: Muslime. Es war auch so schon ein denkbar zwiespältiges Zeichen, wie Finzi versuchte, die Verzweiflung eines Psychopathen über „dieses Verfluchte in mir“ in jene Leichtigkeit zu verwandeln, die man trotz allem von einer Berlinale-Eröffnungsgala erwartet. Das M, das Erkennungszeichen, das der Mädchenmörder Beckert nicht mehr los wird, sollte sich schließlich auflösen wie das Aufwachen aus einem bösen Traum: M wie Moderator. Samuel Finzi ist der neue Moderator der Berlinale. Nicht mehr Anke Engelke, die in der Ära von Dieter Kosslick jedes Jahr tapfer über das Unvermögen ihres Autorenteams hinweggeulkt hatte.
Samuel Finzi kam von draußen rein, er „crashte“ die Gala, er kam quasi aus dem Einspieler auf die Bühne, und er brachte viele Sprachen mit. So polyglott wie gestern wurde eine Berlinale wohl noch nie eröffnet, und das hat am wenigsten damit zu tun, dass das Festival zum ersten Mal einen künstlerischen Leiter hat, der nicht von „hier“ ist: Carlo Chatrian „sprickt“ gerade so viel Deutsch, dass man sich an seinem italienischen Akzent erfreuen kann. Samuel Finzi, geboren in Sofia, einer Metropole, die seiner Erfahrung nach gern mit Budapest und Bukarest verwechselt wird, nahm seine eigene Lebensgeschichte zum Anlass für einen grundlegenden Gedanken: „Wer weiß schon, wem wir gerade den Einlass verwehren?“ Und das bezog sich nur am komischen Rand auf die Frage, ob auf Lesbos oder vor Ceuta und Melilla vielleicht gerade die Moderatorin der Berlinale-Eröffnungsgala 2050 festsitzt, sondern war ganz prinzipiell gemeint, mit dem künstlerischen Privileg, dass die Berlinale ihren Brand, ein „politisches Festival“ zu sein, eben nie anders als mit schönen – oder gestern: angemessenen – Worten einlösen muss.
Die Kulturstaatsministerin bekam für den AfD-Satz auch deswegen stehenden Applaus, weil es ihr damit gelang, das Unbehagen des Abends zumindest für einen Moment in ein politisches Mittel aufzulösen: mit einer Partei, die Institutionen der Demokratie zu deren Zerstörung nützen möchte, arbeitet man nicht zusammen. Auf dem Roten Teppich hatte sich davor schon eine Allianz gebildet, die das Deutschland verkörpert, um das die Berlinale sowieso nicht herumkommt: eine Gruppe von acht Leuten, darunter Maryam Zaree (Darstellerin in “Undine” von Christian Petzold, dem einen der beiden deutschen Beiträge im Wettbewerb) und Burhan Qurbani (Regisseur von “Berlin Alexanderplatz”, dem anderen). Sie zeigten auf.

Carlo Chatrian und seine Direktionspartnerin Mariette Rissenbeek kamen so halbwegs durch den Abend. Rissenbeek fing bei der Bitte um eine Gedenkminute eine Formulierung noch rechtzeitig ein, die vielleicht auch daneben hätte gehen können – was immer sie da gerade im Begriff war, zu sagen, und es dann doch nicht sagte, es zeugt von den Herausforderungen, vor denen das öffentliche Sprechen steht, in einer Zeit, in der nichts mehr zu korrigieren ist, was einmal in der Welt ist. Chatrian wird davon wenig mitbekommen, das ist das Privileg, aber eben auch die Schwäche eines Kurators, der eher das Weltkino kennt als die Nuancen der deutschen Selbstverständigung.
Eine Herausforderung könnte man ihm aber durchaus nahezubringen versuchen: das Geschwafel von der „politischen“ Berlinale, das gestern vor allem auch der übertragende Sender so oft beschwor, als ginge allein von dem Wort eine Heilkraft aus, man sollte es doch ein wenig konkreter werden lassen. Die Berlinale war 1951 so „politisch“, dass sie einen Nazifunktionär als Direktor gut brauchen konnte, so lange er nur den neuen Mythos von der freien Welt beschwor. Die Berlinale muss 2020 so politisch sein, dass ihr nicht einfach die schiere Vielzahl von mehr als 300 Filmen schon als Ausweis des Richtigen reicht.
Samuel Finzis Moderation weist die Richtung. Mit seinem „Act“ als zerrissener Psychopath holte er etwas in das Innerste der Berlinale, was auch noch den liberalen Konsens, auf den die Reden und Gesten bei der Eröffnung der 70. Berlinale selbstverständlich hinausliefen, für einen Moment zerriss. Finzi war Finzi war Beckert war ein Mörder war ein Moderator war ein Deutscher mit Weisheitshintergrund aus Sophia in Bulgarien. Sein Act lief gestern alles andere als perfekt, wahrscheinlich ging er sogar schief. Aber gerade deswegen war er so gut. Und sogar politisch. Und zwar wirklich.