
Das Zählen in Jahren hat so seine Tücken. Besonders deutlich wurde das vor zwanzig Jahren, als die eine Hälfte der Menschheit den Beginn des 21. Jahrhunderts feierte, während die andere Hälfte, oder vielleicht doch eher eine eine pedantische Minderheit von ein paar hundert Millionen, am 31. Dezember 1999 und am 1. Januar 2000 darauf bestand, das Ende des 20. Jahrhunderts zu begehen. Wobei ich mich da gerade auch schon wieder vertan habe, typischerweise, denn das war ja vor 21 Jahren? Oder nicht? Man kommt da schnell ein bisschen durcheinander.
Bei dieser Berlinale wiederholt sich das Spiel gleich mehrfach, denn wir haben es mit Festival 70 im Jahr Zwanzigzwanzig zu tun – da würde man vielleicht fälschlicherweise meinen, das Festival vor 70 Jahren wäre dann im Jahr 1950 gewesen. 1950/2020. Eins gefehlt. Die erste Berlinale fand 1951 statt. Die Jury wurde damals nicht mit Stars beschickt, sondern mit Rundfunk-Funktionären, lokalen Politikern und Kinobesitzern. Damit sich in der schwierigen Zeit niemand zu sehr aufregen musste, wurde der Goldene Bär gleich fünffach vergeben, in den Kategorien Dokumentation, Drama, Komödie, Kriminal- oder Abenteuerfilm und Musikfilm (da gewann der heutige Disney-Klassiker Cinderella).
Beim Internationalen Forum des Jungen Films wiederholt sich die numerische Konstellation. Es findet heuer zum 50. Mal statt, die erste Ausgabe war dementsprechend anno 1971, also müssen die Ereignisse, die zu der Etablierung des Forums führten, bei der Berlinale 1970 stattgefunden haben. So war es ja auch. Michael Verhoevens Antivietnamfilm o.k. führte damals zum Abbruch des Festivals, danach konnte es mit der Berlinale nicht einfach so weitergehen wie gewohnt, und man erfand eine eigene Sektion für schwierige Filme.
Das Forum feiert seinen runden Geburtstag auf eine besonders elegante und aufschlussreiche Art: es zeigt nicht nur einen neuen Jahrgang, sondern auch den ersten. Das Programm des Jahres 1971 zieht sich durch die ganzen zehn Tage, jeden Tag kann man ein, zwei Abstecher in die nahe Vergangenheit machen. Und da bekommt man gleich wieder eine Zählaufgabe. Denn in W.R. – Mysterien des Organismus von Dusan Makavejev heißt es, dass ein Mensch in einem Leben durchschnittlich 4000 mal einen Orgasmus hat. Oder haben sollte. Das würde bedeuten, wenn jemand, sagen wir, 50 Jahre sexuell aktiv ist (vieles, was Doktor Freud entdeckt hat, ziehen wir ab, behalten wir aber im Kopf), dass es alle 4,5 Tage einen Höhepunkt geben sollte.
W.R. ist ein Film über Wilhelm Reich, der wohl auch wusste, dass man beim Sex mit Durchschnittswerten nicht weit kommt, dass man aber Zahlen braucht, um die Lustproduktivität zu messen und zu steigern. Makavejev war übrigens 1970 in der Jury, die sich wegen o.k. in die Haare kriegte. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass das Festival nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte. Ein Jahr später war er dann im ersten Forum eingeladen.

Ein kleiner Überblick über das damalige Teilnahmefeld lässt in etwa die geopolitischen Konstellationen der Zeit erahnen: die Arbeitskämpfe (Sochaux, 11 Juin 68 von der Groupe Medvedkine) stehen im Zeichen revolutionärer Vorbilder in der Sowjetunion und mehr noch der chinesischen Kulturrevolution, von der man damals nur einen sehr dogmatischen Begriff hatte; im Vergleich zu den französischen Intellektuellen zeigte sich Helke Sander mit Eine Prämie für Irene deutlich praktischer, sie wollte vor allem zeigen, was das Arbeiten in einer Waschmaschinenfabrik mit dem Leben einer Frau macht. Afrika und Afroamerika bildeten einen gewichtigen Schwerpunkt im Forum 1971. In diesen Bereich fällt auch mein Geheimtip: Phela-Ndaba (End of the Dialogue) von der Gruppe Members of the Pan Africanist Congress gilt heute als Schlüsseldokument der frühen Antiapartheid-Bewegung in Südafrika. Auf Youtube kann man den Film zwar auch finden, dort wurde er aber, seit dem 11. Februar 2017, also seit drei Jahren, erst 116 mal angesehen. Es lohnt sich also, ihn ein wenig zu verbreiten.
Bei Makavejev fällt zwischendurch ein Satz, der in den 50 Jahren seither an Vehemenz gewonnen hat: „The planet is in trouble.“ Ob man mit freier Liebe den Klimawandel aufhalten könnte, ist eine Frage, die in W.R. indirekt, aber doch mit gebührender Deutlichkeit beantwortet wird: Orgasmusblockade ist eine Form von Ausbeutung, und die Ausbeutungsverhältnisse sind es doch, die alles verdüstern und erhitzen. Wilhelm Reich wollte ausdrücklich die Liebe und die Arbeit befreien, und er dachte dabei nicht an die digitale Boheme heute.
Die Schwierigkeiten des Planeten wachsen derzeit mit jedem Hitzejahr beträchtlich, deswegen malen wir uns besser nicht aus, wie die Berlinale Einsnullnull im Jahr 2050 auf unsere Gegenwart anno 2020 zurückblicken könnte. Eher unwahrscheinlich ist, dass dann neben dem Kohlenstoffeintrag auch die Orgasmushäufigkeit eine Rolle spielt. Obwohl Wilhelm Reich sicher dafür zu haben gewesen wäre, neben der Liebe und der Arbeit auch die Energien der Sonne zu entfesseln.