
Bei dem Prozess gegen Harvey Weinstein in New York ist derzeit in der Schwebe, ob die Jury bei der härtesten Anschuldigung zu einem einstimmigen Urteil kommen wird: „predatory sexual assault“. Wobei das Gericht ja ohnehin nur einen Teil dessen auf den Tisch bekommen hat, was in der Angelegenheit beurteilt werden muss. Der Fall Weinstein wird gleichzeitig auch in den Medien weiterverhandelt, und nicht zuletzt dort, wo sich die Konsequenzen bereits jetzt deutlich zeigen: im Kino. Gestern lief im Panorama The Assistant von Kitty Green. Der Name Harvey Weinstein fällt dort kein einziges Mal, das hat sicher auch persönlichkeitsrechtliche Gründe, aber die Implikation ist viel radikaler. Es ist ein ganzes System, das die australische Regisseurin in den Blick nimmt, oder vielleicht noch genauer: Sie beschäftigt sich mit Strukturen. Die Assistentin sitzt im Vorzimmer des obersten Executives einer Filmproduktionsfirma in New York. Ihr Arbeitstag beginnt zu nachtschlafender Zeit, und er endet spätabends, als sie in einem Diner erschöpft einen Muffin isst. Sie schaut dabei hinauf zu dem Fenster des Büros ihres Chefs. Dort ist immer noch Licht. Den Rest muss man sich denken.
Die Assistentin heißt Jane, sie würde gern selbst einmal Produzentin werden, doch im Moment steht sie noch ganz am Anfang eines Aufstiegs, von dem unklar ist, ob er ihr überhaupt jemals offenstehen könnte. Sie hat zwei männliche Kollegen, die alles routiniert wegarbeiten, was sich im Leben eines Mannes so ergibt, der drei oder vier Wohnsitze hat, eine Frau, einen Chauffeur und einen extrem getakteten Tag. Die beiden Kollegen würden jederzeit lügen, wenn die Frau des Bosses anruft und mit einer Geschichte abgespeist werden muss. Jane hingegen wehrt sich dagegen, ungeachtet des Umstands, dass sie selbst schon von dieser namenlos bleibenden Figur angeschrien wurde. Es ist ein subtiler Moment des Widerstands: Frauen sollten einander nicht auch noch belügen.
Die Hauptdarstellerin Julia Garner ist vor allem aus der Serie Ozark bekannt. Ich musste, während ich dieser Jane bei ihrem Arbeitstag zusah, die ganze Zeit ein bisschen an Margaret Qualley in dem Eröffnungsfilm My Salinger Year denken. Die beiden Figuren (die Assistentin in einer Filmfirma, die angehende Dichterin in einer Literaturagentur) haben es mit vergleichsweise ähnlichen Konstellationen zu tun, aber die Welten könnten unterschiedlicher nicht sein. Da steckt natürlich auch eine kulturelle Wertung dahinter: der Literaturbetrieb wird in My Salinger Year eindeutig romantisiert, während Kitty Green mit The Assistant einen radikal schonungslosen Film gemacht hat. Es ist auch ungleich interessanter, was sich im Gesicht und in der Körpersprache von Julia Garner abspielt.
Die Parallele zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Filmen könnte man sogar noch bis einem Punkt weiterdenken: Wie würde die Berlinale 2020 aussehen, wenn sie The Assistant als Eröffnungsfilm gewählt hätte? Der Gedanke ist nicht sehr realistisch, denn de facto gab es schon eine Premiere im vergangenen August bei dem kleinen Festival in Telluride, und kürzlich lief der Film dann auch noch in Sundance. Nun läuft The Assistant im Panorama, wo er zweifellos gut aufgehoben ist. Aber man könnte sich doch fragen, ob er nicht einen größeren Stellenwert verdient hätte. Umgekehrt sieht der Eröffnungsfilm mit seiner nostalgischen Beschwörung einer analogen und ganz und gar anständigen Welt der Wörter nun noch ein bisschen älter aus. So verändern sich im Verlauf eines Festivals ständig die Akzente. Von Kitty Green kann man in jedem Fall sagen, dass sie einen starken gesetzt hat, und spät am Abend dachte ich dann noch, dass man Harvey Weinstein auch so einen „Prozess“ machen kann: indem man einen Film macht, der deutlich besser ist als das Allermeiste, was er in seinem Leben produziert hat.
PS Auf der Berlinale-Seite von The Assistant kann man die Pressekonferenz mit Kitty Green und Julia Garner sehen – sehr empfehlenswert.