
Gestern Nachmittag sah ich den künstlerischen Direktor der Berlinale, Carlo Chatrian, wie er einem Kamerateam eines der Hauptsponsoren des Festivals ein langes Interview gab. Auf Englisch. Chatrian ist Italiener, Deutsch spricht er gerade einmal für ein paar lustige Protokollsätze, Englisch ist die Sprache, in der die Filmbranche verkehrt. Ich hätte die Szene, am roten Teppich bei der Premiere des koreanischen Wettbewerbsbeitrags von Hong Sangsoo, wohl nicht groß beachtet, hätte nicht ein Kollege von einem lokalen Weltblatt vor zwei Tagen die zweifelhafte Mutprobe auf sich genommen, einen Text darüber zu schreiben, dass bei der Berlinale zu wenig Deutsch gesprochen wird. Damit kann man im Grunde nichts gewinnen, außer den Verdacht, man wäre ein biederer Provinzialist oder gar Kulturnationalist, und wollte vielleicht nur Entlastung schaffen, weil es mit dem eigenen Englisch ein wenig hapert.
Auch über diesen Meinungsbeitrag wäre ich vermutlich hinweggegangen, aber es gibt einen Grund, warum ich bei dieser Berlinale besonders sensibel für sprachliche Aspekte bin: Ich lese gerade Berlin Alexanderplatz, den Roman von Alfred Döblin, aus Anlass der heutigen Premiere der Verfilmung durch Burhan Qurbani. Ein Klassiker aus dem Jahr 1929, und – bei allem Respekt für Babylon Berlin und die Romane von Volker Kutscher – eindeutig der relevantere Text über diese Epoche. Einer der besten Aspekte dieser Lektüre ist, dass ich dabei wieder ein bisschen besser – oder ein bisschen anders – Deutsch lerne. Nämlich das Deutsch, das es – als National- oder Hochsprache – gar nicht gibt.
„Na wart doch einen Momang. Ein Augenblickchen. Man muss nicht so pimplig sein. Das ist so mein Gesichtsausdruck, da kann ich nichts für.“ In der Welt von Franz Biberkopf wird balinert, und das hieß anno 1929, einen Raum zu durchmessen, der von der Franzsprache der Hugenotten und dem alten Fritz bis zu den idiomatischen Resten von Herkunftsgeschichten reicht, die bis nach Czernowitz in Polen, in der heutigen Ukraine, zurückgehen. Die Gesetze der Schwerkraft stammen in dieser Welt von Njuten.
Wo es dann schon ziemlich ins Grundsätzliche geht bei der Sprache von Franz Biberkopf, das ist das Verhältnis zwischen dem dritten und dem vierten Fall. In Deutschland gab es ja einmal einen Beststeller, der den wunden Punkt, die Scheuerstelle des einwandfreien Sprachgebrauchs, zwischen dem Genitiv und dem Dativ verortete. Der eine wäre der Tod des anderen. Die Freunde von Franz Biberkopf sehen das anders. „Mensch, Franz, lieber häng ich mir dran auf. Dir haben sie wirklich eingeseift.“ Die Rede ist von der Binde, mit der sich damals die Nazis auswiesen.
In Berlin ist der Dativ die Erlösung des Akkusativs, und das hat nicht mit mangelnder Sprachkompetenz zu tun, sondern im Gegenteil damit, dass die schnoddrige Rede immer viel mehr weiß als der Duden. Wenn man den vierten Fall als einen der geregelten Bezüglichkeit verstehen wollte (ich improvisiere hier einmal ein bisschen als Linguist), dann ist der dritte der der weniger klaren Bezüglichkeit. Ich und du und wem oder was geht sowieso im Alltag oft ziemlich durcheinander. Bei Döblin wird das Weltliteratur.
Wenn ich die Inhaltsangabe von Burhans Qurbanis Verfilmung richtig gelesen habe, dann spielt dort ein Schauspieler, dessen Czernowitz im afrikanischen Bissau liegt, einen Franz Biberkopf, der Francis heißt, und anfangs ungefähr so gut Deutsch spricht wie Carlo Chatrian. Der Kollege, der sich um das Deutsch bei der Berlinale Sorgen macht, hätte also gute Gründe, da Einspruch zu erheben und den alten Heinrich George wieder hervorzukramen, oder mindestens Günter Lamprecht, der die Hauptrolle in der Serie von Fassbinder spielte. Jetzt wäre aber noch interessant, ob Burhan Qurbani, den ich biografisch als Schwaben aus Afghanistan einordnen würde, die weibliche Hauptrolle der Mieze mit Jella Haase besetzt hat, weil die sich so gut mit Göhte auskennt. Vermutlich braucht sein Film solche Ironien gar nicht, ich sehe da aber doch eine konzeptuelle Pointe, die mir ein bisschen Vergnügen bereitet.
Ohne der Jury in irgendeiner Weise vorgreifen zu wollen, stelle ich mir gerade vor, wie am Samstagabend der sehr britische Jeremy Irons auf Polnisch eine Laudatio auf Welket Bungué aus Anlass eines Goldenen Bären für die beste Schnauze auf dieser Berlinale verleiht. Und Samuel Finzi hätte dazu dann noch eine sophistische Pointe. Sagen wir es einfach so: Das Tolle an so einem Festival ist doch, dass beim Übersetzen eine Menge verloren geht, noch mehr aber gewonnen wird. Nämlich Freiraum, etwas Neues zu erfinden. Widebum, widebum.