Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Wiedersehen mit Cannes

Das Festival Palais von Cannes kurz vor der Eröffnung© AP Photo / Brynn AndersonDas Festival Palais von Cannes kurz vor der Eröffnung

Cannes ist wieder da, das Kino ist zurück, heißt es jetzt überall. Aber Cannes war nie weg, und ob das Kino so zurückkehrt, wie wir es kennen, muss sich noch zeigen. Es stimmt, das Festival ist im letzten Jahr ausgefallen, aber die Institution Cannes würde auch mehrere Pandemien überstehen, denn die Ware Film braucht einen Markt, und dieser Markt liegt an der Côte d’Azur. Es ist die Landschaft, die Kulisse, die Atmosphäre, die der Bilderindustrie entspricht, weil die große Masse ihrer Produkte immer noch auf Eskapismus zielt, auf die Vorspiegelung einer schöneren, heilbaren, mindestens geordneteren Welt. Selbst die schwärzesten Visionen des Autorenkinos sehen besser aus im weichen Licht von Cannes. Zehn Tage mit Filmen im Stil von „Annette“, dem Eröffnungsbeitrag von Leos Carax, würde etwa in Sodankylä am finnischen Polarkreis auch niemand aushalten.

Wenn man eine Weile nicht hier war, sieht man genauer, was sich verändert hat und was gleich geblieben ist. Das Festival hat sich digitalisiert, die Kinotickets stecken jetzt in den Smartphones. Die sozialen Gegensätze sind noch schärfer geworden, Obdachlose schlafen in Durchgängen und vor den Ladentüren auf der rue d’Antibes , während Kolonnen von SUVs über die Croisette rollen. Das „Noga Hilton“ heißt jetzt „JW Marriott“. Um noch mehr Publikumskarten verkaufen zu können, hat das Festival ein weiteres Kino im Vorort La Boca gebaut. Aber auch die beiden verbliebenen Multiplex-Kinos von Cannes, das Arcades und das Olympia, haben den Lockdown überlebt, sie zeigen wie immer das Angebot des Filmmarkts. Dessen Stände im Untergeschoss und in der Zeltstadt auf der Hafenseite des Festivalpalasts werden von den Filmkritikern gemieden, dabei sind sie das Rückgrat auch ihrer Profession. Der Wettbewerb und die Nebenreihen tun ja nur so, als wären sie kein Teil des Marktes. Aber während oben in den Kinos das Publikum buht oder applaudiert und die Kritiker ihre Urteile fällen, werden unten in den Ständen die daraus resultierenden Kurse notiert. Ein Film kann aus dem Nichts zum Bestseller werden und in fünfzig „Territorien“ verkauft werden, wie man das hier nennt, während ein anderer, mit hohen Erwartungen befrachteter (warum fällt einem da schon wieder „Annette“ ein?) unvermutet untergeht. Die Kritiken, die täglich in den Zeitungen, Branchenblättern und Blogs stehen, sind ein fester Bestandteil dieser Bilderbörse. Dabei kommt es auf den einzelnen nicht an, selbst wenn er bei der „New York Times“ oder „Le Monde“ arbeitet, sondern nur auf die Meinung der Mehrheit. Das ist eine Einsicht, die der Wiederkehrende dem Festival-Neuling voraushat: Cannes braucht dich nicht, Cannes wird dich wieder vergessen.

André Dussollier, Sophie Marceau, François Ozon und Géraldine Pailhas vor der Premiere von “Tout s'est bien pass锩 EPA/CAROLINE BLUMBERGAndré Dussollier, Sophie Marceau, François Ozon und Géraldine Pailhas vor der Premiere von “Tout s’est bien passé”

Bei François Ozons Sterbehilfedrama „Tout s’est bien passé“ wird die Mehrheit der Kritiker wohl den Daumen senken. Dafür hat das Premierenpublikum den Film gefeiert, weil es die Leistung von Schauspielern wie André Dussollier und Sophie Marceau auch ohne ästhetisches Muskelspiel des Regisseurs zu schätzen weiß. Und auch in Deutschland sollte „Tout s’est bien passé“ einen zweiten Blick wert sein, denn es gibt darin ein unverhofftes Wiedersehen mit Hanna Schygulla. Sie spielt die Leiterin jener Schweizer Agentur, mit deren Hilfe der greise Vater der Hauptfigur aus dem Leben scheiden will, und sie spielt sie mit derselben energischen Gelassenheit, mit der sie vor gut vierzig Jahren bei Fassbinder die Maria Braun verkörpert hat. Auch dieser Film wurde in Cannes zum ersten Mal gezeigt, nicht im offiziellen Programm, sondern im Filmmarkt. Aber damals lief ein zweiter Fassbinder-Film im Wettbewerb, und die Nebenreihen waren voll mit deutschen Beiträgen. Heute sieht man hier vor allem Koproduktionen, in denen deutsches Geld steckt. Das ist, trotz einzelner Ausnahmen wie „Toni Erdmann“, seit mehr als zwanzig Jahren so. Irgendetwas muss der Deutsche Film ganz furchtbar falsch machen, dass sich Cannes, also die Welt, so wenig für ihn interessiert.