Filmfestival

Filmfestival

Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Die Ordnung des Kinos und das Chaos der Welt

Auf der Bühne von Cannes: Ein Auftritt auf dem roten Teppich am Freitagabend

Der Aufmarsch der Regisseure und Stars auf dem roten Teppich vor dem Festivalpalais, die montée des marches, wirkt im Fernsehen wie eine Folge locker arrangierter Auftritte. Er ist aber alles andere als das. Man muss die vierundzwanzig Stufen zum Grand Auditorium Lumière einmal selbst hinaufgelaufen sein, um zu begreifen, wie genau getaktet das ganze Spektakel ist. Überall, an den Einlasskontrollen auf der Croisette, am Haltepunkt für die Shuttle-Fahrzeuge, am Beginn des roten Teppichs und auf den Stufen selbst, stehen Ordner bereit, um das normale Premierenpublikum von den geladenen Gästen getrennt zu halten und beide Gruppen in streng sortiert und portioniert ins Kino zu bringen.

Die Ordnung, in der das geschieht, folgt bei den Eingeladenen einer ebenso klaren wie unerbittlichen Logik: Sie richtet sich nach dem Marktwert und dem Prestige. Zuerst kommen die B-Models und Sternchen, die vor den wartenden Fotografen ihre Posen in knapp geschnittenen Kostümen aufführen, um im nächsten Film von Luc Besson vielleicht eine Statistenrolle bekommen; dann die Crème der französischen Filmbranche, altgediente Produzenten, Kinolegenden aus den Siebzigern, junge Aktricen mit großen Aussichten; danach die Topmodelle und Popstars, die in diesem Jahr aber alle nicht da sind, Leute wie Claudia Schiffer, Barbara Palvin, Madonna oder David Guetta; und schließlich die Schauspieler und Schöpfer des Films, der drinnen läuft.

Das Schauspiel, das auf diese Weise aufgeführt wird, ist immer das gleiche. Es handelt von Rang und Geltung, Erinnerung und Vergessen, von denen, die gerade erst berühmt werden, und jenen, die es schon fast nicht mehr sind. Es ist auf eine kalte und erhabene Weise gerecht, denn es vollstreckt das Urteil der Geschichte an den Größen der Populärkultur, die so gern immer von heute wären und doch bald schon von gestern sind. Vielleicht sind deshalb in Cannes die Abendkleider so erlesen, die Roben so gewaltig, die Juwelen so strahlend: weil man nie weiß, ob es nicht das letzten Mal ist, dass man die berühmten vierundzwanzig Stufen betritt.

Auch für das Filmegucken selbst hat Cannes ein rigides System entwickelt. Früher gab es im Hauptprogramm Vorstellungen für das Publikum und solche für die Kritiker, die sich nach weißen, rosaroten mit gelbem Punkt, rosaroten ohne Punkt, blauen und orangefarbenen Festival-Ausweisen sortiert vor dem Eingang aufstellen mussten; die Inhaber der orangenen Ausweise durfte erst ins Kino, wenn alle anderen Ausweisträger drin waren.

Covid unter Palmen: Vor dem Corona-Testzentrum in Cannes

Heute gibt es getrennte Vorführungen für die oberen und die unteren Ausweisklassen, dafür dürfen aber alle, freilich nach priorité sortiert, im Online-Ticketportal Karten für die normalen Kinovorstellungen bestellen. In diesem Jahr hat das zu Verwirrung geführt, weil die besten Termine rasch ausgebucht, aber in letzter Minute dann doch wieder verfügbar waren, was jenen, die schon eine andere Vorführung desselben Films reserviert hatten, aber nichts half, da sie ihre Vorbestellung erst wieder canceln mussten, um sich neu bewerben zu können – und dann war der Wunschtermin oft schon wieder weg. Das sind keine Kinkerlitzchen, denn wer über die Goldene Palme schreiben will, muss alle Kandidaten gesehen haben, die dafür in Frage kommen, und das sind hier zwei oder drei pro Tag. Manche, wie der neue Film des Japaners Ryusuke Hamaguchi, dauern drei Stunden. Und schreiben muss man ja auch noch.

Nicht alles ist also Palmen und Party in Cannes, auch wenn der regelmäßige Blick aufs Meer und die Seealpen für manche Augentrübung im Kino entschädigt. Und dann gibt es ja noch die Corona-Tests. „Cannes beginnt mit Covid-Konfusion und widerlichem Speicheltest, bei dem Festivalbesucher in eine Röhre spucken müssen!“, meldete Variety am Eröffnungstag. Tatsächlich werden digitale Impfnachweise von außerhalb der EU von den französischen Behörden nicht anerkennt. Auch wer zweifach geimpft ist und aus Übersee kommt, muss alle achtundvierzig Stunden zum PCR-Test, und alle übrigen, ob aus Europa oder von anderswoher, müssen es sowieso.

Aber ganz so schlimm war es dann doch nicht. Das Testzentrum residiert in einem Zelt am alten Hafen, man kann online Termine buchen, und wer sich registriert hat, kommt sofort dran. Das Röhrchen mit Barcode wird gefüllt, verschlossen und abgegeben, dann ist die Prozedur vorbei. Nach drei Minuten war ich wieder draußen, nach sechs Stunden kam das Resultat. Cannes hat, was die Ordnung des Kinos angeht, Züge von Byzanz, aber die französische Gesundheitsbürokratie arbeitet so glatt und effektiv wie die Militärmaschinerie des alten Roms.

Unter den Tausenden von Getesteten, teilte die Festivalleitung am Freitag mit, gebe es bislang im Durchschnitt drei positive Fälle pro Tag. Das ist nicht viel, aber auch nicht nichts. Aber damit genug von Corona. Das Thema ist durch, niemand will mehr etwas davon hören. Alle wollen zurück ins Kino, an die Strände, auf die Parties, in die Normalität. Doch es hört einfach nicht auf. Es wird nicht mehr, wie es war. Im Alltag nicht und nicht in Cannes.