Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Die Möglichkeit einer Insel

Ausflugsziel für Festivalgäste: Die Ile Sainte-Marguerite in der Bucht von Cannes

In der Bucht von Cannes, per Schiff in einer Viertelstunde erreichbar, liegen zwei Inseln. Auf größeren und näher gelegenen, der Ile Sainte-Marguerite, wurde im siebzehnten Jahrhundert der mysteriöse Mann mit der eisernen Maske gefangen gehalten; in der Festung im Norden der Insel werden seine Zelle und ein paar alte Folterinstrumente gezeigt, und obwohl es eigentlich nichts Wichtiges zu sehen gibt – schon gar nicht die echte Maske, und bei Masken sind wir ja jetzt alle Experten – ist das Museum gut besucht. Die kleinere Insel, die Ile Saint-Honorat, ist dagegen die Keimzelle von Cannes, denn erst durch die Gründung des gleichnamigen Klosters durch Honoratus von Arles im Jahr 410 wurden die Fischerhütten an der Küste an die Verkehrswege der Antike angeschlossen. Die Mönche brauchten Nahrungsmittel, die Pilger aus dem Norden eine Fähre, so wurde die Bilder- und Heiligenverehrung zum ersten Mal ein Geschäft. Später plünderten muslimische und christliche Piraten die Inseln aus, zuletzt kam 1635 noch eine spanische Flotte vorbei, aber das Kloster entstand immer neu, heute steht es strahlender und touristischer da denn je.

Unterdessen wuchs um den Burghügel von Le Suquet herum die heutige Altstadt von Cannes, ein Gewirr von engen, steilen Gässchen, in dem nicht mehr als fünfhundert Menschen gelebt haben können, also etwa so viele, wie in eines der kleineren Festivalkinos passen. Aber die Geschichte hörte nicht auf, an den Hügel zu branden. Im sechzehnten Jahrhundert zogen die Heere Karls V. auf dem Weg zur Belagerung von Toulon hier vorbei, 1707 ging Prinz Eugen mit einer österreichisch-italienischen Armee den gleichen Weg, und im März 1815 schlug Napoleon, der von Elba kommend im nahe gelegenen Golfe-Juan gelandet war, hier mit seinem Häuflein von Getreuen sein erstes Biwak auf.

Alles hat Geschichte, auch das Bewegtbild, das sie aufheben will. In der Reihe „Cannes Classic“ zeigt das Festival restaurierte Kopien von Filmen von Rossellini, Welles, Márta Mészarós, Alain Resnais und anderen. Aber auch ein paar neuere Filme sind dabei, und mit gelindem Schauder merkt man, dass man einige davon noch als Premiere auf der Croisette gesehen hat. „Mulholland Drive“, ist das wirklich schon zwanzig Jahre her? Und „Die zwei Leben der Veronika“ schon dreißig? Im Kino, dem Kind der Moderne, altern die Werke noch schneller als in den anderen Künsten, was sich zwei Jahrzehnte gehalten hat, rückt schon in die Reihe der Klassiker. Aber das Publikum will nicht mit Traditionen gefüttert werden, es braucht das Gefühl, die Welt auf der Leinwand immer wieder neu entdecken zu können. Zum Musealen hat das Kino immer ein zwiespältiges Verhältnis unterhalten, und Cannes war das Schaufenster dieser Ambivalenz. Hier wurde die Cinephilie immer durch kommerzielle Kassenware ausgeglichen, Godard durch Schwarzenegger, Almodóvar durch die Spice Girls. Nur in diesem Jahr wirkt das Festival konservativer als sonst. Der wirtschaftliche Absturz hat seine Spuren hinterlassen. Die Wächter des Tempels stellen ihre Götter in Vitrinen. Die Sonne des Profits leuchtet nicht mehr so hell.

Mit Bildern reden: die britische Regisseurin Andrea Arnold in Cannes


Was sieht eine Kuh, wenn sie in den Himmel schaut? In Andrea Arnolds „Cow“ folgt die Kamera dem Blick einer Milchkuh hinauf zu den Sternen und den Lichtern der Flugzeuge am nächtlichen Firmament. Wie das Kuhauge dieses Bild liest, können wir nicht ahnen, doch für uns bekommt die Kuh – sie heißt Luma – in „Cow“ eine Geschichte, denn der Film begleitet sie über ein Jahr von der Geburt ihres fünften Kälbchens bis zu der ihres sechsten und letzten. Dabei wird er in keinem Augenblick polemisch, im Gegenteil, er zeigt, wie viel Mühe sich der Bauer mit seinen Tieren gibt, wie er sie geduldig umsorgt, ermuntert und besänftigt. Zugleich dokumentiert „Cow“ in aller Schärfe, was es heißt, wenn ein Lebewesen zum modernen Produktionsmittel wird. Die Kuh darf ihr Kalb nicht behalten, es wird mit einem Nahrungscocktail aufgezogen, damit die Milch weiter in die Schläuche der Melkstation fließen kann, und als Luma ihre Funktion als Nutztier zu verlieren beginnt, wird sie mit einem Bolzenschussgerät getötet. In „Cow“ wird kein einziger längerer Satz gesprochen, aber es ist gerade sein Schweigen, das diesen Film so beredt macht. Alles, was er sagen will, steckt in den Bildern. Er klagt nicht an. Er klagt auch nicht. Er schaut hin.

In Juho Kousmanens Film „Hytti nro 6“ (Abteil Nummer 6) fährt die Archäologiestudentin Laura von Moskau nach Murmansk, um zehntausend Jahre alte Steinzeichnungen in den Felsen am Polarmeer zu sehen. Ihr Zugabteil muss sie mit dem Minenarbeiter Vadim teilen, einem Macho und Trunkenbold. Am Ende der Reise hat sie ihre Videokamera und alle darin aufbewahrten Erinnerungen verloren, und auch die Steinzeichnungen sind weniger erhebend als gedacht. Aber Vadim ist immer noch da, und die Geschichte, die mit ihm beginnt, lässt für Laura die Menschheitsgeschichte in den Hintergrund rücken. Alles ist irgendwann historisch, das ist klar, aber im Kino hat die Story vor der History regelmäßig die Nase vorn. So wie im Leben.