Jedes Jahr gab es in Cannes den offiziellen Empfang der deutschen Filmwirtschaft, ein berühmtes und auch berüchtigtes Ereignis – in diesem Jahr fällt es aus. Nicht, dass man die Kulturstaatsministerreden und künstlerischen Einlagen (die Stelzentheatertruppe!) wirklich vermissen würde, aber die Lücke ist doch spürbar, zumal andere, im Festivalprogramm ebenso schwach vertretene Nationen ihre Feiern nicht abgesagt haben. Aber immerhin gibt es das Arte-Boot, die Jacht, auf welcher der deutsch-französische Sender (der eher ein französischer als ein deutscher Sender ist, was nicht für die Deutschen spricht) wie jedes Mal seine Gäste bewirtet. Arte hat diesmal allein elf Filme im Wettbewerb kofinanziert, also fast die Hälfte, und dazu an die zwanzig Beiträge in anderen Sektionen. Das Büffet auf der Jacht ist gemessen an dieser Leistungsbilanz bescheiden, doch es geht ja um die Kunst, und außerdem ist der Blick vom Oberdeck über das Hafenbecken von Cannes zur alten Festung von Le Suquet mit Geld nicht zu bezahlen. Man würde gern noch länger in die Abenddämmerung schauen, aber in der Salle Debussy läuft bald die nächste Vorstellung, und so bleibt es bei einer Stippvisite im Arte-Kosmos.

Ansehen, Prestige, Renommee sind in der Kultur eine Frage des Stils. Das gilt auch für die Festivals. Und da hat Cannes eindeutig die Nase vorn. Das beginnt bei Kleinigkeiten, die in Wahrheit keine sind, wie dem Festivalplakat. Während etwa die Berlinale jahrelang auf eher plumpe Weise ihr Bären-Motiv vermarktet und sich zuletzt unter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek aufs Gefällig-Abstrakte verlegt hat, umarmt Cannes Jahr um Jahr auf seinen Plakaten die Unsterblichen des Kinos. In diesem Jahr, wie schon berichtet, ist Jurypräsident Spike Lee in einer angeschnittenen Einstellung aus „She’s Gotta Have It“ zu sehen, unter einem Himmel voller Palmen. Auf seiner Basecap prangt das Palmen-Logo von Cannes. So macht man das. Als Marlene Dietrich starb, zeigte das Festivalplakat (das schon Wochen vorher gedruckt worden war) ein Porträt von ihr aus „Shanghai Express“. In Cannes seien die Stars zu Hause, heißt es hier immer wieder. Das kann man sehen.
Ein anderes Stilzeichen sind die offiziellen Abendessen. Beim Diner de la Presse am Donnerstagabend gab es als Vorspeise Gemüsiges, danach gebratene Hähnchenbrust mit Risotto. Aber dann das Dessert: ein Erdbeer-Eistortenstück mit Baiser-Haube und Sauce Framboise; daneben, auf einem Sahneklecks, ein halbe Erdbeere mit Blattgoldauflage. Das ganze Presse-Essen war gehobener Standard, aber die teilvergoldete Erdbeere war Cannes. (Ich habe die Erdbeere natürlich gegessen: Das Gold bestand aus gefärbtem Zucker.)
Stilvoll war auch der Auftritt des Programmchefs Thierry Frémaux während des Pressedinners. Erst stieg er ohne großen Anlauf mit einer lässigen Bewegung auf seinen Stuhl. Dann verkündete er den versammelten Journalisten, dass sie für ihn und das Festival ebenso wichtig seien wie die Stars. Ohne die Presse, sagte Frémaux ungefähr, hätte das Festival keinen Resonanzraum und das Kino keinen Bodenkontakt, deshalb bemühe er sich, den Kritikern den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Das klang so gut, dass man sich wünschte, die Ordner und die Kartenkontrolleure vor dem Festivalpalast hätten den Sirenengesang ebenfalls gehört. Denn der nächste Morgen, der nächste Festivalfilm würde alle Anwesenden wieder auf den Boden ihrer wahren Bedeutung zurückholen. Aber an diesem Abend war das Festival unser Freund. Wie heißt es doch bei Lubitsch: „Ich durchschaue alle Ihre Tricks.“ – „Mag sein, aber Sie fallen trotzdem auf alle herein.“ Der Film, er heißt „Ärger im Paradies“, spielt übrigens in Frankreich.
