
Die Schlangen in Cannes sind in diesem Jahr kürzer als sonst. Das Fehlen der Asiaten macht sich bemerkbar, man kommt schneller ins Kino, auch in den Pressekonferenzen gibt es kein Gedränge. An diesem Nachmittag aber standen vor der Salle Buñuel im obersten Stock des Festivalpalasts die Wartenden dicht an dicht. Als die Türen sich öffneten, war der Saal binnen fünf Minuten gefüllt. Dann kam Thierry Frémaux auf die Bühne und kündigte die neue Ausgabe der Festivalreihe „Rendez-vous“ an, zwei Filmjournalisten nahmen auf der Bühne Platz, und schließlich erschien ihre Interviewpartnern: Isabelle Huppert.
Sie trug einen roten Hosenanzug über einer grauen Bluse und blaue Pumps mit Pfennigabsätzen. Und sie war entschlossen, nichts von sich preiszugeben. Die Interviewer fragten sie nach ihren Rollen im Theater (zuletzt Tschechows „Kirschgarten“ in Avignon), nach den Unterschieden zwischen Theater und Kino, nach ihren Lieblingsregisseuren, ihren Lieblingsrollen, ihrem Arbeitsstil, und sie beantwortete alles auf dieselbe gleichmütige und unangreifbar kühle Art. „Ich mache keinen Unterschied zwischen Kino und Theater.“ – „Ich überrasche mich nicht selbst in meinen Rollen, sie lehren mich nichts über mich.“ – „Ich habe beim Drehen nicht viel zu sagen. Ich bin nicht so wichtig, es ist die Vision des Regisseurs, auf die es ankommt.“ Einmal nannte sie sich „eine Zirkulationsagentin“, als säße sie mit den fünfhundert Zuschauern im Marx-Seminar.
Ich glaubte ihr nichts. Denn ich habe Isabelle Huppert oft genug ein Aufnahmegerät unter die Nase gehalten, um zu wissen, dass sie sich hinter ihrer angeblichen Unwichtigkeit und Durchsichtigkeit versteckt. Sie ist nicht die Leinwand, auf die das Kino seine Visionen malt, auch wenn es oft so wirkt, als spiele sie vor der Kamera nicht, sondern warte erst einmal ab, was der Film für sie auf Lager hat. In Wahrheit denkt sie unaufhörlich über ihre Rollen nach. Sie weiß mehr über ihre Figuren als viele der Regisseure, mit denen sie arbeitet, weil sie jedes Buch zum Thema liest, das sie bekommen kann. Wenn die Dreharbeiten beginnen, ist sie im Kopf schon damit fertig. Diese Intelligenz kann Filmemacher und Produzenten verschrecken, deshalb spielt sie sie in der Öffentlichkeit herunter. Eben darum genießt sie es auch, zu improvisieren, weil sie dann mit dem Material, das sie gesammelt hat, spielen kann. Mit schauspielerischen Kraftakten hat das nichts zu tun. Oder glaubt irgendjemand, die Mörderinnen, Engelmacherinnen, Klavierspielerinnen und bürgerlichen Ehefrauen, die sie für Chabrol, Haneke, Chéreau und andere gespielt hat, seien ein Resultat gründlicher Charakterstudien? Sie sind reines Kopfkino, kalt serviert von einer Virtuosin der intellektuellen Überlegenheit.

Ein Satz ragt aus der fünfundvierzigminütigen Fragestunde heraus. „Das Theater und das Kino, wenn es gut läuft, schaffen ein sehr starkes Gefühl des Ansichglaubens.“ Und ein zweiter: „Niemand schüchtert mich ein.“ Die Furchtlosigkeit ist schon an ihren allerersten Rollen abzulesen, von „César und Rosalie“ bis zur „Spitzenklöpplerin“. Die Sucht nach dem Gefühl des Ansichglaubens, dem immer neuen Rausch der Präsenz, muss im Lauf dieser unvergleichlichen Karriere noch weiter gewachsen sein. Inzwischen nimmt Isabelle Huppert auch Rollen an, die sie früher abgelehnt hätte, wie die Drogenmama in „Eine Frau mit berauschenden Talenten“ und die Sängerin in „Souvenir“. Dass sie sich rar machen könnte, um ihren Nimbus zu wahren, liegt anscheinend jenseits ihrer Vorstellungskraft.
Das Publikum, das mehrheitlich aus jungen Frauen besteht, für die Paul Verhoevens „Elle“ die erste Begegnung mit Isabelle Huppert im Kino gewesen sein dürfte, folgt ihren Worten mit Andacht. Am Ende erzählt sie noch, wie sie selbst durch die Schlussszene von Michail Kalatosows Film „Wenn die Kraniche ziehen“ zur Schauspielerei gekommen ist. Darin sagt ein Greis zu einem Mädchen, dessen Verlobter im Krieg gefallen ist: „Man muss leben, Kleine, man muss weiterleben.“ Dann ist das Rendez-vous vorbei. Es war ein Auftritt wie aus einem Film von Michael Haneke, kühl, knapp und präzise. Ihre nächsten beiden Projekte hat Huppert schon abgedreht. Eine Stunde später läuft sie über den roten Teppich von Cannes. Weiterleben. Weitermachen.