Filmfestival

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Was sonst noch geschah: Notizen aus Cannes

Das Kino suchen, wo man es nicht vermutet

Der Jurypräsident und sein Schreibwerkzeug: Spike Lee macht Werbung in Cannes
Der Jurypräsident und sein Schreibwerkzeug: Spike Lee macht Werbung in Cannes

Nichts ist unerträglicher als Leute, die ständig alles besser wissen. Bei meinen ersten Besuchen in Cannes waren fast alle anderen deutschen Kritiker um die fünfzig, Veteranen vieler Festivaljahre. Die meisten hatten noch mit Fassbinder im „Petit Majestic“ getrunken, mit Schlöndorff diskutiert und mit Wenders am Strand gelegen. Entsprechend abgehärtet gaben sie sich gegenüber dem Enthusiasmus der nächsten Generation. Amerikanische Filme waren entweder heillos unpolitisch („Sex, Lies, and Videotape“) oder gewaltverherrlichend („Wild at Heart“), die Tavianis hatten ihre besten Jahre hinter sich (was auch stimmte) und von Altman war nichts mehr zu erwarten (ein großer Irrtum). Allmählich rückten dann jüngere Kollegen nach, und nach zehn Jahren hatte sich der Nachwuchs durchgesetzt, aber dass Misstrauen gegenüber den Besserwissern ist geblieben, und es richtet sich nun, wo auch ich zu ihnen gehöre, gegen mich selbst.

War Cannes in diesem Jahr wirklich so enttäuschend? Es sollte ja ein grandioses Festival werden, mit „dem Besten aus zwei Jahrgängen“ (Thierry Frémaux), mit der filmischen Ernte aus sechzehn Monaten Lockdown und der Zeit davor. Und auf dem Papier klang das, was zu sehen war, auch wirklich bestechend, von Carax über Penn und Verhoeven bis Weerasethakul. Zwölf Tage später bleiben zwei große („Memoria“, „Ghahreman“), vier gelungene („French Dispatch“, „Les Olympiades“, „Tre piani“, „Drive My Car“) und ein paar annehmbare Filme (etwa „France“ von Bruno Dumont, in dem Léa Seydoux endlich ihren großen Auftritt hat). Genügt das? War nicht früher alles besser, größer und glänzender, wie die Fünfzigjährigen meinen?

Schauen wir nach, blättern wir beliebig zehn, zwanzig, dreißig Jahre zurück. 1991 liefen Filme von Rivette, Kieslowski, Angelopoulos, Lars von Trier, David Mamet, Spike Lee (!), Chen Kaige, Werner Schroeter („Malina“) und Maurice Pialat im Wettbewerb, Akira Kurosawas „Rhapsodie im August“ und Peter Greenaways „Prospero’s Books“ wurden außer Konkurrenz gezeigt. Die Goldene Palme gewannen die Coen-Brüder mit „Barton Fink“. 2001: „Mulholland Drive“, „Die Klavierspielerin“, „Moulin Rouge!“, dazu Neues von Godard, Hou Hsiao-Hsien, Tsai Ming-Liang, den Coens, Rivette, Oliveira und Makhmalbaf im Wettbewerb, Goldene Palme für „Das Zimmer des Sohnes“ von Nanni Moretti. 2011: Palme für Terrence Malicks „Tree of Life“, Nanni Moretti, Lars von Trier, Almodóvar, Kaurismäki, die Dardennes, Hazanavicius („The Artist“), Nuri Bilge Ceylan und Woody Allen (außer Konkurrenz) im Wettbewerb.

Mag sein, dass das besonders tolle, außergewöhnliche Jahrgänge waren, aber klar ist, dass solche Konstellationen nicht wiederkehren, auch dann nicht, wenn wirklich jeder einzelne herausragende Film eines Jahres im Hauptprogramm von Cannes läuft. Das liegt nicht daran, dass es die Talente, die einmal Rivette, Lynch, Altman und Kaurismäki hießen, nicht mehr gibt, sondern daran, dass sich der Spielraum für ihre Kreativität zugleich strukturell verbreitert und ästhetisch verengt hat. Es gibt eben nicht mehr nur Kino und Fernsehen, sondern auch noch Streaming, Clips, Videoblogs, Installationen, Games Design und vieles mehr. Deshalb ist es sinnlos, sich den Streaming-Diensten entgegenzustellen, um die Filmtheater zu retten, wie Cannes es tut. Man muss sie stattdessen umarmen, man muss überall, auch in den Serien, den Clips und Games, das Gelungene suchen, das Neue und Großartige, eben weil es so diffus geworden ist. Das Kino finden, wo man es nicht vermutet.

Aus Cannes nehme ich ein Bild mit, es stammt aus Apichatpong Weerasethakuls „Memoria“. Als Tilda Swinton endlich erfährt, woher das dumpfe Krachen in ihrem Kopf stammt, blickt die Kamera von hoch oben auf ein Stück Regenwald. Dann hebt sich langsam eine große, gedrungene Form aus dem Grün, zuerst glaubt man an ein Tier, dann sieht man, dass es ein Raumschiff. Es dreht sich, dann beschleunigt es, und dort, wo es eben noch war, entsteht ein Loch in der Luft, begleitet von jenem Krachen, das Tilda Swinton den ganzen Film verfolgt hat. Das Loch schließt sich, und übrig bleibt ein Ring aus weißem Rauch, der über dem Dschungel schwebt, dünner wird und schließlich zergeht. Einen Wimpernschlag später glaubt man schon nicht mehr, was man gerade gesehen hat.

„Infin che ’l mar fu sovra noi richiuso.“ – „Und endlich schloss sich über uns das Meer.“

Der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul (links) und die Schauspielerin Tilda Swinton auf dem roten Teppich© AP Photo/Vadim GhirdaDer thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul (links) und die Schauspielerin Tilda Swinton auf dem roten Teppich