
Austern essen Leute in rosa Polohemden und benehmen sich dabei, als feierten sie einen Etappensieg beim „Ocean Race“. Anstatt den Austernessern ihr Vergnügen zu gönnen, pflegte ich meine Vorurteile. Bis ich meinen eigenen Mann vor einem Berg Austern in unserer Küche ertappte, mit einem Küchenmesser im Kampf gegen felsenharte Schalen.
Angewidert und fasziniert zugleich sah ich das Glibberzeugs in seinem Mund verschwinden. Ob ich probieren wolle, raunte er mir zwischen geräuschvollen Schlürfern zu. Austern hätten einen fantastischen Nährstoffgehalt, sie seien ein Festessen fürs Immunsystem, gut gegen Erkältung. Der Zinkgehalt sei phänomenal, dazu alle wichtigen B-Vitamine, Calcium, Magnesium, Jod, Eisen, kaum Kalorien, viele Proteine. Mein Blick fiel auf die aufgeschlagene Seite eines Fitness Magazins, worin der Verzehr von Austern aus immunologischen Gründen gepriesen wurde. Dekadenz unter dem Deckmantel Gesundheitsvorsorge! Am nächsten Tag wollte ich trotzdem Austern probieren. Vom Meeresrauschen aus den Lautsprecherboxen bei Nordsee ermutigt, nippte ich an der Flüssigkeit: Reines Salzwasser, wie ich es schon hundertfach beim Schwimmen im Meer unfreiwillig geschluckt hatte. Dann kam der schwierigere Part: das Glibberzeugs musste runter. Meine erste Auster war wie mein erster Tequila, ein schnelles Augen-zu-und-durch-Ereignis. Kulinarischer Mehrwert: gleich Null. Die Kultur des Austernessens sollte ich erst später entdecken, in Frankreich.
Austern sind für die Franzosen ja, was die Weißwurst für die Bayern ist. Jeder isst sie, jeder mag sie, man bekommt sie überall, entlang der Küsten, im Inland, in Paris sowieso. Hemingway genoss sie in der Closerie des Lilas – wie er in „Paris, ein Fest fürs Leben“, schreibt. Von Honore Balzac, Asket und Feinkostliebhaber zugleich, ist überliefert, dass er die Fertigstellung eines Werkes mit 100 Austern feierte. Palme de la table, die Krönung der Tafel, nannte man sie am Hof von Versailles. Allein 3400 Austernzüchter gibt es entlang der französischen Küsten (die Franzosen essen ja auch mehr als eine Milliarde Austern pro Jahr). In Deutschland ist es eine einzige auf Sylt.
Lebensmittelvergiftung!
Einmal lagerte ich Austern ein paar Tage lang im Kühlschrank, was problemlos sei, wie der Verkäufer versichert hatte. Irgendwann ließ sich der Genuss nicht länger aufschieben, und ich stand vor der Wahl: Hausmüll oder Verzehr. Verzehr! Die erste Auster ließ sich einfach öffnen, schmeckte seidig, leicht nach Seetang und Meereswelle, ich probierte eine weitere. Plötzlich war da dieser Gedanke. Was wenn…?? Ich googelte. Austern unbedingt aus der Verpackung nehmen, hieß es, sie atmen lassen, am besten mit einem feuchten Tuch bedecken, verdorbene Austern an der leicht zu öffnenden Schale erkennbar, gefährliches Bakterium, das sich sofort auf andere Austern überträgt. Innerhalb von fünf Minuten fühlte ich mich sterbenselend. Lebensmittelvergiftung! Auf meinem Magen schien eine Stahlplatte zu liegen. Trotzdem recherchierte ich weiter nach den Symptomen und sah mindestens die Hälfte davon auf mich zukommen. Die verbliebenen Austern behandelte ich wie Sondermüll, desinfizierte das Spülbecken mit heißem Wasser und legte mich ins Bett, überzeugt, dass ich in wenigen Stunden den Notarzt würde rufen müssen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich vollkommen beschwerdefrei. Den üblen Streich hatte mir mein Kopf gespielt. Daran erinnerte ich mich sofort, als ich auf diese Essens-Geschichte in der März-Ausgabe von „Cell“ stieß. Es war in den siebziger Jahren, als sich ein spitzbübischer Händler einen Spaß mit seinen Freunden erlaubte. Er richtete ein Abendessen aus, bei dem auf den ersten Blick – außer der stark gedimmten Beleuchtung – nichts merkwürdig zu sein schien. Als er das Licht dann auf die hellste Stufe stellte, waren seine Gäste entsetzt: Sie aßen blaues Steak, grüne Chips und rote Erbsen. Einige fühlten sich augenblicklich miserabel, ein paar stürzten sogar ins Badezimmer. Dabei war das Essen einwandfrei. Was uns schmeckt, ist bekanntlich auch Kopfsache.
Essen ist auch eine Reise durch die Zeit
Um uns den Geschmack zu verderben, genügt oft schon, dass uns ein nahestehender Mensch mit Vorurteilen impft, oder ein bestimmtes Essen mit unangenehmen Erinnerungen verbunden ist. Umgekehrt ist das Lieblingsessen aus Kindertagen ja vor allem deshalb unvergesslich, weil wir durch den Akt des erneuten Essens in die Vergangenheit reisen und die positiven Gefühle von einst reaktivieren. Wohlfühlessen funktionieren über Erinnerungen an Situationen, geliebte Menschen, außergewöhnliche Momente. „Und dann mit einem Mal war die Erinnerung da“, heißt es in Marcel Prousts Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Zurückgebracht hatte diesen unter so vielen Erinnerungen verschütteten Augenblick ein in Lindenblütentee getunktes Gebäck namens „Petite Madeleine“, und zwar in jener Sekunde, in der das Gebäck auf der Zunge zerging.
Und die Austern? Sind für mich heute wie ein Kurzurlaub in Frankreich, natürlich am Meer!