
Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment: Sie laden ein paar Freunde, die Ihnen mehr oder weniger am Herzen liegen, zum Essen ein. Eine Freundin bringt ihren Freund mit, den Sie, da er ein humorfreier Besserwisser ist, nicht ausstehen können. Als vorbildliche Gasgeberin möchten Sie freilich, dass es allen schmeckt – aber eben nicht allen gleich gut. Also überlegen Sie, wie Sie das Geschmackserlebnis Ihrer Gäste heimlich manipulieren können, was einfacher ist, als man gemeinhin denkt, womit die Neurogastronomie ins Spiel kommt.
Die entscheidende Frage dieses relativ jungen Forschungsfelds lautet: Was beschert uns das ultimative Geschmackserlebnis? Charles Spence, Professor in Oxford, Neurogastronomie-Pionier und gemeinsam mit Betina Piqueras-Fiszman Autor des Buchs „The Perfect Meal. The Multisensory Science of Food and Dining” beschreibt es so: „Neurogastronomie basiert auf der Erkenntnis, dass alles, was wir essen oder trinken durch unsere Sinne verarbeitet wird.“ Die drei Protagonisten sind Nase, Zunge und Gehirn. Wir riechen, sehen und schmecken das Essen nicht nur, wir fühlen und hören es auch. Man nennt das multisensorischen Genuss.
Apropos hören: Dass einem Geräusche schlagartig den Appetit verderben können, erlebte ich in vor vielen Jahren in einem Restaurant in Shanghai. Der Kellner stellte gerade den Teller vor mir ab, auf dem eine knusprige halbe Ente lag, als wenige Meter entfernt ein Chinese lautstark seine Nase hochzog und kurz darauf eine schleimige Masse in einen Napf unter seinem Tisch spuckte. Der Abend war für mich gelaufen.
Für alle Köche, die überzeugt sind, dass allein die Qualität der Zutaten sowie eine meisterliche Zubereitung die entscheidenden Faktoren eines gelungenen Mahls sind, müssen neurogastronomische Erkenntnisse eine bittere Pille sein. Selbst das liebevoll gestreichelte japanische Kobe-Rind, dessen Kilopreis etwa 550 Euro beträgt, schmeckt, liegt es auf einem roten Teller, nicht mehr sensationell. Überhaupt rote Teller. Falls Sie in Ihrem Schrank welche aufbewahren sollten, weg damit. Außer, Sie möchten abnehmen – oder Ihr Partner soll abnehmen. Oder, gemünzt auf Ihre Gäste: Sie möchten verhindern, dass eine bestimmte Person eine zweite Portion rosa gebratenen Kalbstafelspitz auf ihren Teller lädt. Offenbar, das zeigen Studien, vermindert rotes Geschirr unseren Hunger. Rot assoziieren wir bekanntlich mit Gefahr: Fliegenpilze sind Rot, Verbotsschilder, Feuerlöscher. Typische Reaktion bei Gefahr lautet Flucht, an Essen denken da die wenigsten. Auch Sushi-Liebhaber müssen zugeben, dass sechs Lachs-Nigiri auf einem roten Teller nicht gerade appetitlich aussehen. Wir essen weniger, womit der Spruch „das Auge isst mit“ eine weitere Bedeutungsdimension erhält.
Dass das Geschirr die servierten Speisen einrahmt, weshalb seine Bedeutung (Farbe, Form, Gewicht) gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, wissen die Japaner bereits seit etlichen Jahren, weshalb sie sich – während in Frankreich und anderswo noch alles nebeneinander auf den Teller geklatscht wurde – bereits den Kopf über die bestmögliche Präsentation zerbrachen. Inzwischen, so Charles Spence, sei eine ganze künstlerisch agierende “Wissenschaft” entstanden, die versuche, appetitlich anmutendes Essen in verführerisches zu verwandeln. Der Speisende soll das bestellte Essen lieben, noch bevor er überhaupt sein Besteck zur Hand genommen hat.
Das Denken an Essen aktiviert dieselben Gehirnareale wie Emotionen
Auch beim Dessert wäre es töricht, den nächstbesten Teller zu greifen. Der spanische Starkoch und ehemalige El Bulli Chef Ferran Adrià wirkte federführend bei einer Studie mit, deren Probanden Erdbeermousse serviert bekamen; die eine Hälfte der Teilnehmer aß von einem weißen, die andere von einem schwarzen Teller. Die Mousse auf den weißen Tellern schnitt deutlich besser ab: Die Tester bewerteten den Geschmack 15 Prozent intensiver und 10 Prozent süßer.
Aber weshalb? Einer der Gründe liegt im Kontrast der Farben. Erdbeermousse auf Weiß wirkt demnach verheißungsvoller als auf Schwarz, wobei wie gesagt auch Farbassoziationen eine Rolle spielen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen produzieren wir beim Blick auf den Teller Erwartungen – positive oder negative. Worauf wir die größte Lust verspüren, probieren wir als allererstes. Das kann das Steak sein, die Marone, der Rotkohl. Charles Spence schreibt: „Die Wirkung von Farben und Farbkontrasten auf die Geschmackswahrnehmung und das Konsumverhalten wird stark von Gefühlen beeinflusst, weil das Denken an Essen und Emotionen dieselben Gehirnareale aktivieren.“
Ein weiteres Beispiel: Wir wissen alle, dass das Essen in Krankenhäusern und Pflegeheimen grauenhaft ist. Es riecht fad, sieht fad aus, schmeckt fad. Schlimmstenfalls erzieht es Patienten zu Essensverweigerern. Ein Versuch zeigte, dass sich die Verzehrmenge dementer Patienten in einem britischen Krankenhauses allein dadurch um knapp ein Drittel steigern ließ, indem man weißen Fisch anstatt auf beigefarbenen auf blauen Tellern reichte, womit er nicht mehr wie eine undefinierbare Pampe aussah, sondern viel appetitlicher. Ein simpler Trick mit ungeheurer Wirkung.
Am besten, man betrachtet das Feld der Neurogastronomie als eine große Manipulationseinladung. Je nachdem, wer da gerade manipuliert, kann diese Trickserei Gutes bewirken (Krankenhaus) oder eben, etwa mit Blick aufs Gewicht, weniger Gutes (gesteigerter Fast Food Konsum). Am Ende entscheidet der aufgeklärte Konsument. Man muss ja nicht immer anbeißen, sobald die Nahrungsmittelindustrie ihre Köder – etwa grüne Verpackungen die Gesundes suggerieren – nach uns auswirft.