
Erstaunlich, welche Absonderlichkeiten Fans mitunter lieben. Nehmen wir die Südkoreanerin Wang Joo: Deren Anhänger nämlich schätzen an der jungen Frau (so sagt sie selbst) besonders, wie sie die Haut von Hühnchenschenkeln abnagt, fein säuberlich, bis am Ende nur noch der blanke Knochen übrig bleibt. Liebend gerne auch zum Frühstück. Wang Joo, klein, dicklich, freundliches Gesicht, isst regelmäßig vor der Kamera. Hunderttausende Menschen haben ihr schon dabei zugesehen, wie sie bisweilen laut schmatzend Unmengen an Essen vertilgt – man könnte auch sagen, mittels Stäbchen und Händen in sich hineinstopft, als befände sie sich in einem Wettkampf. Was nicht in ihren kleinen Mund hinein passt, kullert einfach wieder raus. Wer einen nervösen Magen hat, dem wird von bloßen Zuschauen übel. Mit der Vorliebe, die tägliche Nahrungsaufnahme vor Publikum zu vollbringen, ist Wang Joo in ihrem Land nicht allein, im Gegenteil, weit mehr als dreitausend Selbstvermarkter finden offenbar, dass Mukbang (zusammengesetzt aus den koreanischen Wörtern für Essen und Übertragung) eine großartige Sache ist.
Eine der erfolgreichsten Food-Bloggerinnen auf diesem Gebiet ist Park Seo-Yeon, die sich „The Diva“ nennt, und auf Ästhetik setzt. Das Aussehen der jungen Frau, Make-up, Haare, Kleidung, nichts ist hier dem Zufall überlassen. Park Seo-Yeon kocht vor der Kamera, kommuniziert mit ihren Zuschauern, und: isst natürlich, reichlich, versteht sich. Rindfleisch, Pudding, Suppen, Tintenfisch, Reis. Portionen, die eine Großfamilie sättigen würde. Ihr Körper ist dafür erstaunlich zierlich. In einem Interview sagte sie: “Ich versuche hübsch auszusehen, hübsch zu essen, und eine Menge leckere Speisen zu mir zu nehmen.”
Das Phänomen ist nicht neu, aber es gewinnt in der technologiebesessenen südkoreanischen Gesellschaft, deren Mitglieder im Grunde permanent auf irgendeinen Bildschirm starren, an Popularität. Womit das Essen als Akt des Hungerstillens gleichzeitig an Bedeutung verliert. Sprich: es zählt auch die Performance! Optimierungstechnisch sind die Südkoreaner ja bestens geschult, schon als Kind wird ihnen eingebläut, wie enorm wichtig es ist, alles aus sich und seinem Körper herauszuholen. Also tanzt die eine Bloggerin ganz entspannt vor einem aufgebauten Buffet und streckt ihren voluminösen Hintern in die Kamera, während sich ein milchbubihaft anmutender Mann eine Militäruniform überzieht und aberwitzige Grimassen schneidet. Das Publikum jedenfalls, mit dem Dank der superschnellen Internetverbindung mühelos kommuniziert werden kann, honoriert die Inszenierung.
Essen als Performance und Kampf gegen die Vereinsamung
Uns mag Mukbang absurd vorkommen, als einer dieser verrückten Trends, der früher oder später in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Nur: das stimmt schlicht nicht.
Für Park Seo-Yeon sind zwei Dinge entscheidend, die, davon ist sie fest überzeugt, dem „gemeinschaftlichen” Essen weiter Auftrieb verleihen werden: die Obsession mit Essen und Diäten an sich, sowie die Einsamkeit, der Preis des urbanen Lebens. Die südkoreanische Gesellschaft, die sich in einem atemberaubenden Tempo entwickelt hat, ist eine Singlegesellschaft. Offenbar trifft in dieser Singlegesellschaft den Einzelnen das Alleinsein besonders hart, sobald es ums Essen geht. Technologie als Einsamkeitsüberbrücker, selbst beim Dinner. Eine profane Fernsehkochshow könnte einen solchen emotionalen Dienst unmöglich leisten, weil sie kein Gefühl von Nähe herstellt. „Für Koreaner ist das Essen eine extrem soziale, eine gemeinschaftliche Aktivität, weshalb sogar das koreanische Wort ‚Familie‘ bedeutet: ‚die, die zusammen essen‘” sagte Sung-hee Park von der Ewha-Universität in Seoul gegenüber CNN. Die Familie, das ist heute eben die virtuelle Gemeinschaft.
Trotz aller vermeintlicher Nähe: hierzulande wird „Mukbang“ sicherlich kein Trend werden. Wir verabreden uns nach wie vor lieber mit Menschen, als uns zum Essen vor einem Computerbildschirm niederzulassen, selbst wenn es sich bei diesen Menschen um Fremde handelt. Seit das soziale Netzwerk MealUp im vergangenen Jahr in Berlin ins Leben gerufen wurde, haben sich jedenfalls sehr viele Interessierte registriert. Ob es dabei tatsächlich immer nur ums gemeinsame Essen geht, ist natürlich eine ganz andere Frage.