
Sommerfrische suchte man in den vergangenen Wochen ja vielerorts vergebens, es sei denn man reiste nach Hiddensee. Während die Temperaturen in weiten Teilen des Landes von Hitzerekord zu Hitzerekord kletterten, herrschten auf der Ostseeinsel zwanzig Grad in der Luft und zwölf Grad im Wasser. Mit Abweichungen von zwei, drei Grad nach oben und nach unten. Bei zehn Grad Wassertemperatur hört dann auch der Badespaß auf. Dafür kommt der Hunger auf deftige Mahlzeiten wieder. Auf Hiddensee badet man morgens in der eiskalten Ostsee und frühstückt anschließend fettreichen Fisch, für die körpereigene Wärmeisolation. Eskimoessen eben. Erstaunlich, wie flexibel sich der Geschmackssinn den äußerlichen Gegebenheiten anzupassen weiß. Wie Forscher der University of California herausgefunden haben, handelt es sich bei dem Heißhunger auf fetthaltige Lebensmittel um einen Urinstinkt, ausgelöst durch körpereigene, im Darm produzierte Botenstoffe, sogenannte Endocannabinoide, die berauschend wie Cannabis wirken und ähnliches Suchtpotential bergen.

Das erklärt zumindest die lange Schlange, die sich pünktlich zum Verkaufsstart um 11.30 Uhr vor dem Räucherkutter im Hafen von Kloster bildet. Dann nämlich kommen die lokalen Fischspezialitäten frisch aus dem Rauch in die aufgeklappte Semmel und von dort beinahe andächtig in den Mund. Die Möwen lauern auf Probierstücke, die selten herunterfallen, denn der Dorsch ist so köstlich, dass, wer ihn isst einen seltsamen Tanz aufführt, immer bemüht die Happen noch im Fallen aufzufangen. Auf diese Weise gestärkt und beflügelt macht man am besten eine Wanderung, zum Klausner beispielsweise. An Ginsterbüschen und grasenden Schafen vorbei windet sich der Weg den einzigen Hügel der Insel hinauf. Atemberaubend ist auch der Ausblick: sehr viel Himmel und sehr viel Meer; vielversprechend glitzernd und vom Wind zu kleinen Wellen aufgetürmt liegt es dem Wanderer zu Füßen. So braucht es eine Weile, bis man am Klausner angelangt ist und schon meldet sich der Hunger wieder. Der Urinstinkt rät diesmal zum Schnitzel, mit selbstgemachtem Kartoffelsalat. Im Klausner werden alle Speisen frisch zubereitet, eine Tatsache die man nicht unbedingt in der Abgeschiedenheit erwartet. Immerhin ist der logistische Aufwand auf der autofreien Insel enorm. Doch Ramona Siegel, die Geschäftsführerin, legt nach eigenen Angaben Wert auf Qualität, daran ändert auch der Ansturm nichts, den der Klausner derzeit erfährt. Seit der Buchpreisverleihung im letzten Herbst reden hier alle nur noch von „Kruso“, dem Roman des Preisträgers Lutz Seiler, dessen Handlung in weiten Teilen im Klausner spielt. Es fällt schwer beim Verzehr des Schnitzels nicht an die „heilige Suppe“ zu denken, die der Titelheld aus den zurückgehenden Essensresten unter Zugabe von Kräutern und Pilzen zubereitet. Letztere gedeihen im Roman besonders gut, seit sie mit dem gewaltigen Schleimpfropf aus dem Abfluss des Abwaschbeckens gedüngt werden.
Sahneeis macht auch glücklich
Im Sommerpalast eröffnete in diesen Tagen die erste Eismanufaktur Hiddensees. Ein Hingucker ist allein schon das Hinweisschild, gezeichnet hat es ein Illustrator der „New York Times“, ein Verwandter der Betreiber des Sommerpalasts. Das sympathische Paar zog vor zwei Jahren von Berlin auf die Insel und verkauft hier nicht nur Illustrationen und Designerklamotten, maritime Strampler aus Brooklyn oder Wollpullover aus Zürich, sondern neben Kaffee und selbstgebackenem Kuchen neuerdings auch Eis. Auf die Frage was sie an Berlin vermissen, lautet die spontane Antwort Sushi. Aber was ist schon “roher Fisch mit kaltem Reis und Algen” gegen Hiddensee? Die Ungezwungenheit abseits aller Hektik wussten schon Asta Nielsen und Joachim Ringelnatz zu schätzen, auch Albert Einstein, Gerhard Hauptmann, Helene Weigel und Gret Palucca ließen sich hier inspirieren. Glamour wird man auf Hiddensee dennoch vergebens suchen. Wer Blicke auf sich ziehen möchte, fährt besser nach Sylt oder gleich nach St. Tropez. Auf Hiddensee geht es weniger um das gesehen werden, als um die Geheimtipps im Verborgenen. Das Brownie-Eis im Sommerpalast ist jedenfalls schon jetzt eine kleine Sensation. So etwas spricht sich dann doch rasch herum auf einer kleinen Insel. Kälte hin oder her, Eis geht eben immer, aufwärmen kann man sich ja auf dem Festland wieder. Gegen einen weiteren Hitzerekord zum Ende des Sommers hin gäbe es zumindest aus meiner Sicht nichts einzuwenden. Vom Fisch habe ich vorerst genug.
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Die Ostsee ist nur bei Ostwind (so) kalt…
Richtig! Und der wehte beharrlich. Inzwischen hat der Wind gedreht und Hiddensee erlebt den Traumsommer, bei steigenden Wassertemperaturen…gestern waren es immerhin 15 Grad.
Sommerpalast?
Wie mögen sich die Zeiten auf Hiddensee geändert haben. Von einem Sommerpalast habe ich seinerzeit nichts bemerkt und Schnitzel-Ede bestimmt auch nicht.
Mit fielen Grüssen.
Bernard del Monaco
"Sie" haben einen Namen vergessen Käthe Kruse und die dazugehörige Lietzenburg!
Hiddensee hat schon einen besonderen Reiz. Meine hiesige “dritte” Frau `jammerte´ nur, wenn wir am Hafen in Stralsund vorbeikamen, ich will nach Hiddensee, ich will nach Hiddensee. Sie “kannte” -sorry- bis zu diesem Zeitpunkt “nur” Stralsund und Hiddensee. Ich persönlich bevorzuge jedoch Bornholm. Habe die Ehre.
Ja! Und so viele andere Namen: Hans Fallada, Thomas Mann, Walter Felsenstein, Käthe Kollwitz…. Aber es ist ja ein Food Blog und dieses Mal handelt der vom Fisch. Kultur gibt es dann an anderer Stelle wieder. Grüßen Sie Ihre Frau herzlich aus Hiddensee!