Food Affair

Und plötzlich war ich ein Vertrauter

###Weil ich ein Dicker bin                           Foto Getty

 

Da schreibt man nun ein Buch darüber, wie es sich anfühlt, ein dicker Mensch zu sein, wie das auf den Körper und die Seele und das Leben insgesamt durchschlägt, und man schreibt über die Gelüste nach Big Mac und Nutella, über die Scham, über die Schmerzen im Rücken und, ja, auch über Momente von Einsamkeit, und eines Tages merkt man: Man hat was Wichtiges vergessen. Einen ganz entscheidenden Hinweis. Man merkt es in dem Moment, da ein Fernsehteam, das über das Buch einen Fünf-Minuten-Beitrag für ein Boulevardmagazin macht, einen bittet, vor der Kamera einen Hamburger zu essen. Nun will man für das eigene Werk ja ein wenig Werbung machen, aber die nette Redakteurin hat die Bitte noch nicht fertig ausgesprochen, da weiß man: Auf keinen Fall darfst du das machen. Denn beim Essen sieht kaum jemand souverän aus, aber als Dicker kannst du damit nur vollständig verlieren. Weil es wirkt, als sei genau das deine Standardhaltung und -beschäftigung im Leben: Beißen, Kauen, Schlingen.

So ein Buch ist eben, hoffentlich, ein Bildungserlebnis. Für den Leser hoffentlich, aber auch für den Autor. Denn, ehrlich, bis ganz zum Ende hatte ich nicht durchdacht, wie sehr ich durch die Veröffentlichung zu einem öffentlichen Patienten werden würde – und auch zu einem Vertrauten mir eigentlich fremder Menschen. Aber das hat vermutlich damit zu tun, dass das Übergewicht ins Herz dessen geht, was Menschen als ihre Identität sehen, und dass es als Problem und Phänomen auf die eine oder andere Weise beinahe jeden betrifft.

Machen Sie selbst mal den Test. Wenn Sie im Kollegenkreis plaudern, sagen Sie: „Ich bin gerade auf Diät.“ Vor allem wenn Ihr Gegenüber eine Frau ist, werden Sie in etwa der Hälfte der Fälle als Antwort zu hören kriegen: „Ich auch.“ In der anderen Hälfte wird sie Ihnen entgegnen, mit einem Seufzer: „Ja, ich müsste auch mal wieder anfangen.“

Mir scheint es, als sei das Essen in den vergangenen paar Jahren der neue Sex geworden: ein Thema, das ausgiebig diskutiert, das zum Ziel leidenschaftlich vorgebrachter Gebote und Verbote wird, an dem eine ganze gesellschaftliche Suchbewegung, die Frage nach dem ethischen Leben im hochentwickelten Kapitalismus, deutlich wird. Auch beim Essen wird das Private – der Griff in den Kühlschrank – immer stärker zum Politischen.

Leute wie ich, der ich schon Schwierigkeiten mit dem richtigen Essen hatte, bevor sich die Frage, ob es zusätzlich auch das korrekte Essen sei, noch kaum stellte, sehen diese Intensivierung des Diskurses mit einer gewissen Sorge. Weil sich dadurch nämlich die Neigung, anhand ihres Essverhaltens ein Werturteil über Menschen zu treffen, noch verschärfen könnte.

Andererseits: Auch wenn ich weiß, dass „Normalgewichtige“ Dicke oft mit einem stillen Ressentiment betrachten – seit ich über meine Kondition geschrieben habe, ist mir auch eine Menge goodwill begegnet. Schon die Vorveröffentlichung einiger Seiten aus meinem Buch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und online („Mein Bauch, mein Leben und ich“, F.A.S. vom 24. Januar) hatte eine Reihe von Offerten hervorgebracht: Eine Qigong-Lehrerin schlug mir ein Basisseminar im Gebirge vor, bei dem symbolisch eine Waage in den Müll geworfen werden soll, um die ständige Fixierung auf das Gewicht zu brechen; ein Veranstalter von Video- und Online-Coachings, der selbst dauerhaft 45 Kilo abgenommen hat, bot mir einen seiner Kurse an, inklusive eines einfachen „Tricks, der automatisch zum Fettverlust führt“; eine PR-Agentur, die eine Therapeutin vertritt, die eine eigene Methode zur Gewichtsreduzierung und -regulierung entwickelt hat, möchte sie und mich zusammenbringen; die Adipositas-Koordinatorin eines Krankenhauses will mich über eine Magen-OP beraten.

Doch was besonders auffällig und in vielen Fällen berührend ist: wie oft Menschen, die ich gar nicht kenne, mir erzählen, dass sie ebenfalls ein Problem mit dem Essen und dem Gewicht haben. Ich habe den Eindruck, dass sie gegenüber Unbekannten, wie ich zunächst einer bin, sonst nicht so offen reden; selbst sich Freunden darüber anzuvertrauen ist ja nicht leicht, so offensichtlich das Problem auch ist. Sich einem Leidensgenossen mitzuteilen beschämt sie weniger. Ich habe sogar das bestimmte Gefühl, dass es sie danach drängt, darüber zu sprechen, und dass es sie erleichtert, und sei es nur kurz. Es ist, als trüge ich so eine Art inoffizielles Therapeutendiplom um den Hals, auf dem geschrieben steht: „Ich bin dick, was belastet Sie?“

So berichtet eine Tontechnikerin, eine zierliche Person, mir nach der Aufzeichnung eines Radiointerviews, sie habe innerhalb eines Jahres mehr als zwanzig Kilo verloren: „Die ersten zehn nach der Trennung von meinem Mann; mit diesem Schwung habe ich dann weitergemacht.“ Ich sage ihr, sie könne sich glücklich schätzen, dass sie auf emotionalen Stress reagiert, indem sie weniger isst; ich, leider, esse eher mehr.

Eine andere Frau hat, wie sie per Mail mitteilt, erfolgreich abgenommen, macht in ihrem Umfeld aber keine große Sache daraus: „Ich habe den Eindruck, dass, wenn ich darüber spreche und mich andere dafür loben, sofort eine gewisse Erwartungshaltung entsteht: ‚Na, dann mach mal auch weiter so, hoffentlich schaffst du es, du musst jetzt dranbleiben.‘ Haha, als ob ich das nicht selber wüsste! Aber den psychologischen Druck, der dadurch entsteht, lasse ich mir nicht mehr gefallen!! Es ist schließlich mein Leben, mein Körper und mein inneres Gemüt.“ Eine andere Leidensgefährtin erzählt von ihrem jahrelangen Ringen mit den überflüssigen Kilos, inklusive Eierdiät, Wodkadiät, Kohldiät, Low Carb, FDH, Nulldiät – und von ihren Selbstvorwürfen, sie könnte eine jüngst diagnostizierte Krebserkrankung durch ihr exzessives Gewicht mitverschuldet haben.

Diese kurze Vertrautheit, die ja eigentlich privat ist, lässt sich manchmal auch herstellen, wenn andere zusehen. Mit Susanne Fröhlich, die vor ein paar Jahren mit „Moppel-Ich“ ein höchst erfolgreiches eigenes Buch über den „Kampf mit den Pfunden“ (Untertitel) vorgelegt hat, plauderte ich in ihrer Sendung „Fröhlich lesen“ im MDR, als seien wir Geschwister, so jedenfalls kam es mir vor – Geschwister, die genau wissen, wie es ist, in einer bestimmten Umgebung und mit dem gleichen Knacks aufzuwachsen.

Wenn es ums Übergewicht geht, hat fast jeder so seine Geschichte, direkt oder indirekt. Eine Leserin, selbst nicht übergewichtig, schreibt, ihr Freund sei ebenfalls sehr dick. Das sei nie ein Problem für sie gewesen; nun, da sie von der Heimlichtuerei erfahren hat, mit der viele Dicke ihre Not bemänteln, gesteht sie, sie wisse aber nicht, wie er das empfinde.

Eigentümlich auch, wie sich immer wieder auch Normalgewichtige mit dem Dicken solidarisieren – sobald sie von seiner Bedrängnis mal erfahren haben. „Ich kenne das ja auch mit dem Heißhunger“, sagen sie dann, oder: „Bei mir sind es die Zigaretten.“ Ich bin nie ganz sicher: Ist das nun ein echtes Bedürfnis nach Solidarisierung oder eher der Wunsch nach psychologischer Entlastung, weil einem selbst eine Drangsal erspart geblieben ist?

Vielleicht, denke ich, ist das Übergewicht ja einer jener menschlichen Makel, die uns mitgegeben sind und an denen wir uns beweisen müssen. Im Laufe eines Radiogesprächs erzähle ich ein wenig von den Schwierigkeiten des Dicken in romantischen Angelegenheiten und dass einem dabei der schwergewichtige eigene Körper ganz schön im Wege stehen kann. Danach meldet sich eine Hörerin; sie sei blind, sagt sie, und sie habe sich bei meiner Schilderung daran erinnert gefühlt, dass viele Männer sie erst mal nur als „die Blinde“ sähen – und erst dann als Frau. Jeder hat so seine Geschichte.

„Weil ich Dicker bin. Szenen eines Lebensgefühls“ ist im C. Bertelsmann Verlag erschienen; 336 Seiten, 19,99 Euro.

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